Antwort an die Grünen: Gewaltexzesse in Chemnitz als Blaupause für rechtsextreme Nachahmer?

Pressebericht, Handelsblatt,11.10.2018

Soziale Medien als Mobilisierungsinstrument: In Chemnitz haben Rechtsextremisten erfolgreich davon Gebrauch gemacht. Das könnte Schule machen.

Berlin. Die Vorfälle hatten bundesweit für enormes Aufsehen gesorgt – und am Ende sogar den Chef des deutschen Inlandsgeheimdienstes derart in Bedrängnis gebracht, dass er seinen Posten räumen musste.

Gewaltbereite Hooligans und Neonazis marschierten Ende August an zwei Tagen durch das sächsische Chemnitz. Es wurde Jagd auf Ausländer gemacht und Angst verbreitet.

Die Rechtsextremisten hatten eine Bluttat am Rande eines Stadtfestes für ihre Zwecke instrumentalisiert und waren wie in einer Machtdemonstration durch die Innenstadt gelaufen. Kurzzeitig standen 6000 Demonstranten aus dem eher rechten Spektrum etwa 1500 Gegendemonstranten gegenüber – dazwischen knapp 600 Polizisten.

Im Nachhinein stellte sich heraus, dass dem Aufmarsch eine ausgeklügelte Mobilisierungskampagne vorausging. Über soziale Netzwerke seien Rechtsextremisten aus ganz Deutschland nach Chemnitz gerufen worden, stellte das sächsische Landesamt für Verfassungsschutz in einer Beurteilung fest. Dass die Strategie der Rechten offenkundig aufgegangen ist, wird in der Bundesregierung mit Sorge gesehen.

Experten im Innenministerium befürchten, dass die Ausschreitungen in Chemnitz den Rechtsextremisten als Blaupause für künftige Aktionen dienen könnten. Das geht aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Grünen-Bundestagsabgeordneten Monika Lazar hervor. „Die Art und Weise sowie auch das Ausmaß der Geschehnisse in Chemnitz dürfte bei Rechtsextremisten als Erfolg verbucht werden“, heißt es in dem Dokument aus dem Innenministerium, das dem Handelsblatt vorliegt.

Vor diesem Hintergrund könne davon ausgegangen werden, „dass Rechtsextremisten und andere asylfeindliche Akteure versuchen werden, öffentlichkeitswirksame Delikte, an denen Zuwanderer beteiligt sind, auch zukünftig für ähnliche Kundgebungen und Aktionen zu nutzen“.

Das Ministerium sieht in dieser Hinsicht vor allem die sozialen Netzwerke als Mobilisierungsinstrument. Die „virtuellen Kontaktmöglichkeiten“ vereinfachten eine überregionale Vernetzung. Im Fall Chemnitz habe dieser „Mobilisierungsgrad“ von der „besonders starken rechtsextremistischen Szene und rechtsextremistisch beeinflussten Fußballfan-Szene“ profitiert.

Das Gefahrenpotenzial etwa durch die Solidarisierung gewaltorientierter Fußballfans und rechtsextremistischer Gruppierungen sieht das Ministerium insoweit mit Sorge, als es zu einer möglichen „Verschärfung“ der Lage beitragen könne. „Die Erfahrung zeigt, dass das rechtsextremistische Spektrum in der Lage ist, Stimmungslagen in der Bevölkerung aufzunehmen und diese versucht, ideologisch aufzuladen“, heißt es in der Antwort auf die Grünen-Anfrage.

Die Grünen-Politikerin Lazar forderte Innenminister Horst Seehofer (CSU) auf, den Rechtsextremismus künftig „ernsthaft“ in den Blick zu nehmen. „Der gewaltbereite Rechtsextremismus ist eine der größten sicherheitspolitischen Herausforderungen unserer Zeit“, sagte Lazar dem Handelsblatt. „In einem Sammelbecken aus Alt-NPDlern, rechten Burschenschaften, Hooligans, Kampfsportlern, Pegida, Identitärer Bewegung, 'Ein Prozent', waffenaffinen Reichsbürgern und AfD entsteht ein neuer Rechtsterrorismus.“ Dem müssten die Sicherheitsbehörden „nachhaltig Rechnung tragen und ihre Analysefähigkeit in diesem wichtigen Bereich endlich verbessern“.

Dass das Ausmaß der Ereignisse in Chemnitz von den Sicherheitsbehörden offensichtlich unterschätzt wurde, ist verwunderlich. Denn dem Verfassungsschutz des Bundeslandes war bekannt, dass das rechte Spektrum über „kommunikative Strukturen zuhauf“ verfügt, wie die Behörde seinerzeit erklärte. Die Hooliganszene im Umfeld des Fußball-Regionalligisten Chemnitzer FC sei demnach „besonders mobilisierungsstark“. Zwei Gruppen – „Kaotic“ und „NS Boys“ („New Society Boys“) – hätten für die Kundgebung am Montag, den 27. August, getrommelt. Beide haben in Chemnitz Stadionverbot.

Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) erklärte damals, die Mobilisierung im Internet sei stärker als in der Vergangenheit. Sie beruhe „auf ausländerfeindlichen Kommentaren, auf Falschinformationen und auf Verschwörungstheorien“.

Die Grünen-Politikerin Lazar sieht auch hier Handlungsbedarf. Das Gefahrenpotenzial gewaltorientierter Fußballfans sowie die Neonazi-, Hooligan- und Kampfsportszene müsse von den Sicherheitsbehörden „gründlicher“ analysiert und eingedämmt werden. Nicht erst in Chemnitz habe man beobachten können, welch großes Mobilisierungspotential rechtsextreme Hooligans hätten.

„In den letzten Jahren konnte man einen Trend zur Professionalisierung der Hooligan-Strukturen erkennen“, erläuterte Lazar. Insbesondere der Kampfsport spiele hier eine immer größere Rolle, davor dürfe die Bundesregierung nicht weiter die Augen verschließen. „Fördermaßnahmen zur Rechtsextremismus-Prävention im Kampfsport etwa wären ein guter Anfang.“

Auch angesichts der jüngsten Festnahmen einer rechtsterroristischen Terrorzelle aus Sachsen mahnte Lazar ein Umdenken an. „Wir brauchen endlich eine stärker faktenbasierte Sicherheitspolitik, die Netzwerke und Strömungen innerhalb des Rechtsextremismus auch mit wissenschaftlichen Mitteln und für die Öffentlichkeit zugänglich aufbereitet.“ Ihre Partei wolle hierfür den Verfassungsschutz in seiner bisherigen Form auflösen, da er schon seit geraumer Zeit ein gefährliches Eigenleben entwickelt habe.

„Beim Bundesamt für Verfassungsschutz braucht es eine Zäsur und einen institutionellen Neustart“, betonte Lazar. Dafür sei jetzt der richtige Zeitpunkt. Denn nach dem Desaster um den Fall des abberufenen Bundesverfassungsschutz-Präsidenten Hans-Georg Maaßen müsse die Bundesregierung „verlorenes Vertrauen wieder herstellen“.

Autor: Dietmar Neuerer

[Quelle: www.handelsblatt.com]