Von Tino Moritz
Dresden - Was Sachsens Grünen-Chef am späten Sonntagnachmittag widerfuhr, erfahren zunächst seine mehr als 6000 Follower auf Twitter. "#kaltland in #Naumburg; Regionalzug nach #Leipzig mit LOK Fans voll. Eingestiegen, erkannt worden, Flasche an den Kopf bekommen. #nonazis" schreibt Jürgen Kasek.
Auf Facebook wird der 35-Jährige später ausführlicher schildern, was ihm und seinen beiden Leipziger Parteifreundinnen Monika Lazar und Christin Melcher eben auf der Rückfahrt vom Urwahlforum mit den vier Bewerbern um die Grünen-Spitzenkandidatur zur Bundestagswahl 2017 in Erfurt passiert ist.
Die Bundespolizei spricht am Tag danach von 210 Anhängern des Viertligisten Lok Leipzig, die nach der empfindlichen 0:3-Auswärtsklatsche im Traditionsduell beim FC Carl Zeiss Jena ausgerechnet in dem Regionalzug sitzen, in den in Naumburg die Gruppe um Kasek zusteigen will. Von einigen wird er schnell erkannt. "Die rasteten nach wenigen Sekunden schon aus", erinnert sich die Bundestagsabgeordnete Lazar. Laut Leipzigs Grünen-Chefin Melcher wählte die Gruppe zwar extra die Tür zum Einstieg, an der zehn Polizisten gestanden hätten. Kasek sei jedoch von "Hools" erkannt worden, immer mehr seien gekommen, die Bundespolizei habe "komplett überfordert" gewirkt, so Melcher. Ein Lok-Anhänger habe es mehrfach "eine Provokation" genannt, dass mit Kasek ein "BSG-Fan" im Zug sei, womit er Chemie Leipzig meinte, den mit Lok verfeindeten Ortsrivalen. Daraufhin habe ein Beamter ins Funkgerät gesprochen, dass "Chemiefans im Zug" seien. Dann habe die Polizei die Grünen zum Verlassen des Zuges aufgefordert und immer wieder geschrien: "Haut ab!"
Einen wirklichen Vorwurf gegen die Bundespolizei will Kasek am Tag danach nicht erheben, auch wenn er sich ein anderes Verhalten gewünscht hätte. Aber die Beamten hätten sie bei einem weiteren Aufenthalt im Zug sicher nicht schützen können und außerdem wohl wirklich gedacht, "dass wir provoziert hätten". Die Bundespolizei gibt an, dass der Verweis aus dem Zug zum Schutz der Gruppe erfolgt sei - und dass ihre Einsatzkräfte keine Ahnung hatten, wer die angeblichen "Chemiefans" waren.
Auch Sachsens Innenminister Markus Ulbig (CDU) verurteilt gestern "die Attacken" auf Kasek und seine Begleiter. Die Bundespolizei kündigt eine Auswertung der Videoaufzeichnungen an. Dabei dürfte es auch um den noch unbekannten Werfer der leeren Plasteflasche gehen, die Kasek bei der Konfrontation im Zug am Hinterkopf traf. "Eine Beule" habe ihm das eingebracht, die er gestern eigentlich noch ärztlich checken lassen wollte, sagt Kasek. Doch zunächst kommt er nicht dazu, weil ständig das Telefon klingelt. Am Nachmittag wollte er die Vereinsspitze von Lok treffen. Und am Abend macht er weiter mit "Gesicht zeigen gegen Hetze und Gewalt", dieses Mal in Leipzig gegen Legida. Als ihn Hooligans sehen und anpöbeln, schreitet die Polizei ein.
"Ich lasse mir weder von Rechten oder Hooligans vorschreiben, wann und wo ich mit welchem Zug zu fahren habe, in welcher Gemeinde ich sein darf oder nicht oder wie ich mein Leben zu führen habe", erklärt er auf seinem Facebook-Profil. Dort wimmelt es von Kommentaren, längst nicht alle sind aufmunternd. Kasek kündigt nicht nur eine Strafanzeige wegen des Vorfalls in Naumburg, sondern auch gegen diejenigen an, die auf seiner Seite zu Gewalt auffordern oder beleidigen. Mit der Materie kennt sich Kasek aus, nach eigenen Angaben hat der Anwalt allein in den vergangenen zwölf Monaten etwa 300 Strafanzeigen gestellt. Die wenigsten davon führen zu einem aus seiner Sicht befriedigenden Ergebnis, was er aber nicht den Ermittlern ankreidet: "Polizei und Justiz sind einfach überlastet."
Dem Innenministerium wurden in den ersten neun Monaten 78 Fälle bekannt, in denen Politiker im Zusammenhang mit dem Themenkomplex Asyl und Ausländer zur Zielscheibe wurden - in jedem dritten davon ging es um Beleidigung. Als Grünen-Chef und regelmäßiger Anmelder von Demonstrationen für Weltoffenheit in ganz Sachsen ist Kasek öfter ins Visier geraten. Ende Oktober wurde per "Steckbrief" ein "Kopfgeld 10.000 Euro" auf ihn ausgesetzt, weil er eine "antideutsche Demo" organisiert habe. Kasek sagt, dass der Umschlag als Absender eine handschriftlich notierte Chemnitzer Adresse enthalten habe und er deshalb hofft, dass der Urheber ermittelt werden könne. Er "bekomme regelmäßig Hasspost und Drohungen zugeschickt", twitterte er vor ein paar Tagen. Nicht ohne die "lieben Besorgten" darum zu bitten, seinen Namen mal richtig zu schreiben: "Ich heiße weder Karsek noch Kassel oder Kaseck oder Kassek."
Den Humor hat der Grüne, der in seiner Partei nicht nur Freunde hat, aber dennoch auf dem Parteitag Ende November als Landesvorsitzender wiedergewählt werden dürfte, auch nach Naumburg nicht verloren. Direkt nach dem Verweis aus dem Regionalzug sorgte ein Zugbegleiter dafür, dass die Grünen im ICE mitkamen, der schneller als die Lok-Fans in Leipzig war. "Danke, Deutsche Bahn", sagt Kasek dazu.
Mit den Angreifern hat er zudem mehr gemein, als ihnen lieb ist. Als Lok vorübergehend VfB Leipzig hieß, feuerte der gebürtige Markranstädter die Heimmannschaft im Bruno-Plache-Stadion sehr oft an. So erlebte er am 7. Juni 1998 auch den dramatischen Abstieg aus der Zweiten Bundesliga mit. Ein Sieg gegen die SG Wattenscheid 09 hätte gereicht. Doch das Spiel endete 0:0.