Es lässt sich nicht sagen, dass die Bundesregierung sonderlich flott war mit ihrer Antwort. Mitte September hatte die AfD-Fraktion im Bundestag eine Große Anfrage zu den Ereignissen in Chemnitz gestellt. Rund zwei Wochen zuvor war dort Daniel H. mutmaßlich von Migranten nach dem Stadtfest erstochen worden. Im Anschluss kam es an mehreren Tagen zu Demonstrationen sowie zu Übergriffen von Rechtsextremen. Die Ereignisse fanden auch international Beachtung.
Ein zentrale Rolle spielte dabei ein Video, das über die sozialen Medien vielfach geklickt wurde. Es zeigt eine Szene, in denen Migranten auf offener Straße am Rande der Demonstrationen nachgesetzt wird. Das Video war mit "Hetzjagden" überschrieben. Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und Regierungssprecher Steffen Seibert machten sich seinerzeit den Begriff zunächst zueigen. Im Anschluss entspann sich eine Debatte darüber, ob dies eine treffende Beschreibung der Szene im Video sei oder ob die Geschehnisse dadurch zusätzlich dramatisiert würden. Der damalige Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen widersprach Merkel seinerzeit, indem er gar die Authentizität des Videos anzweifelte.
Exakt 21 Fragen hat die AfD der Bundesregierung zu deren Verwendung des Begriffs "Hetzjagden" gestellt. Sechs Monate später, also Mitte März, kommt die Antwort. Darin verweist die Regierung im Wesentlichen erneut darauf, dass ihre Bewertung seinerzeit auf der damaligen Medienberichterstattung fußte. Anders gesagt: Neue Erkenntnisse bringen die Fragen und Antworten nicht. Und doch setzt die AfD das Thema erneut auf die Tagesordnung des Bundestags.
Mit dem Wort "Hetzjagden" hätten insbesondere Merkel und Seibert "Fake News" in die Welt gesetzt, sagt der AfD-Abgeordnete Martin Erwin Renner am Freitag zur Eröffnung der Debatte. Er spricht von "offensichtlich falschen Tatsachenbehauptungen". Seibert müsse zurücktreten. Der AfD-Politiker Ulrich Oehme aus dem Erzgebirge behauptet, die Regierung habe das Video genutzt, "um vom eigenen Versagen in der Flüchtlingspolitik abzulenken".
Die Abgeordneten der anderen Fraktionen nehmen die Darstellungen der AfD als Steilvorlage. Die meisten Gegenredner sind Sachsen. Der FDP-Rechtspolitiker und ehemalige sächsische Justizminister Jürgen Martens empört sich, die AfD beklage "Fake News", dabei habe sie selbst in Chemnitz nach dem Tod von Daniel H. gezielt Gerüchte über einen angeblichen Übergriff einer Frau verbreitet. Die AfD zeige, dass sie an Aufklärung kein Interesse habe. "Sie wollen ein Verbrechen umdeuten und für Ihre Zwecke instrumentalisieren", kritisiert Martens.
Der Linke-Politiker André Hahn sagt, die AfD führe "einen grotesken Streit um den Begriff Hetzjagden, um das tatsächliche Geschehen zu verschleiern". Hahn nennt die Partei "eine Bedrohung für den inneren Frieden in unserem Land". Auch der Chemnitzer SPD-Abgeordnete Detlef Müller betont, die AfD zeige, dass ihr "Wortklauberei" um den Begriff "Hetzjagden" wichtiger sei als das tragische Ereignis der Tötung eines Menschen. Stattdessen sei die Partei "Schulter an Schulter" mit Rechtsradikalen von Pro Chemnitz marschiert, die vom sächsischen Verfassungsschutz beobachtet würden.
Der Bundestagsabgeordnete Frank Heinrich (CDU), ebenfalls aus Chemnitz, sagt, Ende August seien in der Stadt Unbeteiligte und Freunde von ihm bedroht worden und in Panik geraten. Mitbürger hätten sich wegen ihres Aussehens damals nicht mehr sicher gefühlt. Das Verhalten der AfD und rechter Gruppen sei "zum Schaden meiner geliebten Stadt". Während seines Vortrags hält Heinrich in der Hand ein Papierschild mit der Aufschrift "Chemnitz ist weder grau noch braun". Die Leipziger Grünen-Abgeordnete Monika Lazar betont, interessant sei, was die AfD in ihrer Anfrage nicht wissen wolle, nämlich, wie die Ereignisse damals dermaßen aus dem Ruder laufen konnten. Und am Ende ihrer Plenarrede spricht Lazar noch eine Einladung aus, zu einem Anti-Rechts-Konzert Anfang Juli in Chemnitz. Sie sagt: "Ich hoffe, wir sehen uns alle, denn: Wir sind mehr."
Autor: Alessandro Peduto
[Quelle: www.freiepresse.de]