Nachdem Ende August und Anfang September in Chemnitz Tausende Faschisten die Straßen der drittgrößten Stadt Sachsens unsicher gemacht hatten, übten sich Behörden- und Regierungsvertreter wochenlang in der Verharmlosung der Neonaziaufmärsche. Bundesinnenminister Horst Seehofer nannte statt dessen Migration die "Mutter aller Probleme", der Chef des Bundesamts für Verfassungsschutz, Hans-Georg Maaßen, zog Augenzeugenberichte über tätliche Angriffe durch Neonazis in Zweifel, Sachsens Ministerpräsident behauptet nach wie vor, es habe keine Hetzjagden gegeben.
Durch Recherchen von Medien und antifaschistischen Gruppen wurde seitdem deutlich, dass diese Behauptungen nichts mit der Realität zu tun haben. Wie die Freie Presse in dieser Woche berichtete, kam es am 1. September – nach einem von der AfD und Pegida veranstalteten "Trauermarsch" – zu organisierten Angriffen auf Teilnehmer einer linken Gegenkundgebung. Einer der Betroffenen sagte dem Blatt, aus einer Gruppe dunkel gekleideter Personen heraus angegriffen worden zu sein: "Drei oder vier Männer rannten auf mich zu und begannen, mich zu schlagen." Ein anderer Mann habe da bereits blutend auf dem Boden gesessen, die Täter hätten "Adolf Hitler Hooligans" gerufen, erinnerte sich der 23jährige. Eine angegriffene Chemnitzerin erzählt, die herbeigerufene Polizei habe abgeraten, Anzeige zu erstatten.
Am Donnerstag erklärte das Innenministerium nun in einem dem Handelsblatt vorliegenden Dokument, es gebe Befürchtungen, Szenen wie die in Chemnitz könnten sich wiederholen: "Die Art und Weise sowie auch das Ausmaß der Geschehnisse in Chemnitz dürften bei Rechtsextremisten als Erfolg verbucht werden", heißt es in der auf Anfrage der Grünen-Abgeordneten Monika Lazar erstellten Lageeinschätzung. "In einem Sammelbecken aus Alt-NPDlern, rechten Burschenschaften, Hooligans, Kampfsportlern, Pegida, Identitärer Bewegung, 'Ein Prozent', waffenaffinen Reichsbürgern und AfD entsteht ein neuer Rechtsterrorismus", so Lazar.
Mehrere Lokale, zwei persische und ein jüdisches, sind in Chemnitz seit den Aufmärschen Ziel von Neonaziangriffen worden. Zuletzt wurde am vergangenen Sonntag die Gaststätte "Safran" von mit Helmen vermummten Gewalttätern brutal attackiert. Der Inhaber, Masoud Hashemi, liegt seither im Krankenhaus. Er überlege, sein Restaurant aufzugeben. "Wenn ich mich nicht sicher fühle, muss ich aufhören", sagte er gegenüber der Freien Presse (Mittwochausgabe). Zehn, 15 Minuten habe es bis zum Eintreffen der Polizei gedauert, dabei sei das Präsidium in unmittelbarer Nähe.
Zufall sei es nicht, dass die sächsische Polizei immer wieder durch Untätigkeit gegenüber rechten Straftaten auffalle, kommentierte die Linke-Bundestagsabgeordnete Ulla Jelpke am Donnerstag gegenüber jW. "Es wurde von Anfang an weggeschaut und bagatellisiert. Sachsens Polizei hat jeglichen Willen vermissen lassen einzuschreiten". Die Aufnahme eines Terrorismusverfahrens gegen die Gruppierung "Revolution Chemnitz" sieht Jelpke nicht als Zäsur im Verhalten der Behörden: "Man will vor den Wahlen in Bayern und Hessen simulieren, dass man auch gegen rechts vorgehe." Ernst zu nehmen sei das nicht. Die nötige Trendwende könne dagegen anders wo eingeleitet werden: Am Samstag wollen Zehntausende in Berlin unter dem Motto "Unteilbar – Solidarität statt Ausgrenzung" gegen den Rechtsruck demonstrieren. "Man kann nur hoffen, dass da Hunderttausende hinkommen, um zu zeigen: Wir sind die Mehrheit! Und nicht diese Nazis oder die AfD", so Jelpke.
Autor: Peter Schaber
[Quelle: www.jungewelt.de/artikel/341462.testfall-chemnitz.html]