Aufbau und Stil erinnern an einen Verfassungsschutzbericht. Allerdings geht es in dem Papier nicht um "politischen Extremismus" oder Spionage, sondern um Anhänger des Fußballsports. Verantwortlich für den Jahresbericht der Fußballsaison 2018/19 der drei Profiligen zeichnet die "Zentrale Informationsstelle Sporteinsätze" (ZIS). Es gibt sie seit 1992, angegliedert ist sie an das Landesamt für Zentrale Polizeiliche Dienste der Polizei Nordrhein-Westfalen (LZPD) mit Sitz in Duisburg. Die Eigenwerbung klingt so: "Ziel der ZIS sowie aller anderen beteiligten Polizeibehörden und Netzwerkpartner ist es, anlassbezogene Störungen bei Fußballspielen zu minimieren." Dafür unternimmt sie so einiges, sammelt, analysiert und bereitet Daten auf, tauscht diese Informationen zu "Gefahrenpotentialen im Zusammenhang mit Heim- und Gästefans und deren Anreisewegen" mit Informationsstellen der Länder und Bundespolizei aus. Da überrascht es kaum, dass in dem Bericht viel von "Störerlage", "Freiheitsentziehenden/-beschränkenden Maßnahmen" und "Tatorten" die Rede ist. Um "Drittortauseinandersetzungen", eine amtliche Wortneuschöpfung für Wald-und-Wiesen-Kloppereien "erlebnisorientierter Fans" fernab der Stadien, geht es auch.
Zwei Kennziffern sind besonders aufschlussreich: Im Vergleich zur Saison 2017/18 ist im Berichtszeitraum die Gesamtanzahl der Verletzten von 1.213 auf 1.127 gesunken, ein Rückgang um fast sieben Prozent. Die eingeleiteten Strafverfahren gingen um etwa neun Prozent von 6.921 auf 6.289 zurück. Bei der ZIS ist man trotzdem besorgt. Vor allem über den "zunehmenden Organisationsgrad innerhalb der Ultraszenen". Der zeige sich im "Ausnutzen von Gruppendynamiken" und "Aufziehen großflächiger, teilweise blocküberspannender Banner". Warnsignale seien auch "Solidarisierungseffekte bei Eingriffsmaßnahmen" von Ordnern oder Polizisten.
Die Fanhilfe Hertha BSC erklärt auf jW-Nachfrage: "Der ZIS-Bericht gibt kein realistisches Lagebild wieder", auch wenn dies von Polizei und Politik behauptet werde. Denn er "basiert ausschließlich auf Zahlen polizeilicher Behörden", kritisiert René Lau, Mitglied der AG Fananwälte. Aber nicht nur das. Es werden nur eingeleitete Ermittlungsverfahren erfasst, wie viele dieser Verfahren zu Verurteilungen führten, wird nicht erhoben. Und rechnete man aus dem ZIS-Bericht alle Straftaten heraus, die keine Gewaltdelikte seien, "hätte sich das Bild des 'gemeingefährlichen Fans' nochmals relativiert", so Lau.
22 Millionen Zuschauer haben in der Spielzeit 2018/19 die drei ersten Ligen besucht. Setzt man diese Besucherzahlen hinsichtlich der Straftaten und Verletzten ins Verhältnis zu anderen Großveranstaltungen wie Volksfesten und Konzerten, gibt es für Lau nur einen Schluss: "Fußballstadien sind einer der sichersten Orte dieser Republik." Schärfere Gesetze, mehr Polizei, "wofür brauchen wir das", fragt der Anwalt aus Berlin, "wenn selbst das ZIS-Zahlenwerk sinkende Straftaten und weniger Verletzte dokumentiert?" Kernstück der ZIS ist die 1994 eingeführte DGS, die "Datei Gewalttäter Sport". Mitglieder der Ständigen Konferenz der Innenminister und -senatoren beschlossen deren Einführung, um als gewaltbereit eingestufte Fußballanhänger zentral zu registrieren. Sie wird als sogenannte Verbunddatei beim Bundeskriminalamt (BKA) geführt und von der ZIS gespeist.
Detlev Pilger, sportpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, positioniert sich gegenüber jW eindeutig: "An der Datei sollten wir auch in Zukunft festhalten, damit randalierende, gewalttätige Fans keinen Zutritt zu den Stadien bekommen." Personen, die nach einem Freispruch in einem Gerichtsverfahren noch immer in der DGS aufgeführt sind, müssten aber gemäß der datenschutzrechtlichen Vorschriften gelöscht werden, fordert Pilger. Monika Lazar, Sprecherin für Sportpolitik der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen, betont: "Die DGS muss dringend grundlegend reformiert werden." Allein der Name sei irreführend, denn wie parlamentarische Anfragen der Grünen ergeben hätten, seien ein Fünftel aller Gespeicherten dort wegen einer Personalienfeststellung oder eines Platzverweises erfasst. "Das sind noch lange keine Gewalttäter", so Lazar. Deshalb drängt auch sie, Datensätze von freigesprochenen Fans "unverzüglich" zu schreddern.
Und noch etwas stößt Lazar auf: Eine Benachrichtigungspflicht gegenüber Betroffenen, wie sie in Bremen und Rheinland-Pfalz existiere, müsse endlich bundesweit eingeführt werden. "Grund- und Bürgerrechte gelten auch für Fußballfans." Eine Rechtsstaatsnorm, die auch Sicherheitsbehörden verinnerlichen müssten.
Zurück zum ZIS-Bericht. Ein Passus irritiert besonders. Die "zielgerichtete Medien- und Öffentlichkeitsarbeit" von Fanhilfen und "sogenannter Szeneanwälte", wie es im Bericht heißt, scheint der Behörde ein Dorn im Auge zu sein. Dass eine polizeikritische Tätigkeit engagierter Fans und der Anwaltsberuf als Bedrohung für die Sicherheit dargestellt werden, "ist eine mehr als gefährliche Entwicklung", finden die rechtskundigen Herthaner.
Autor: Oliver Rast
[Quelle: www.jungewelt.de]