Gewalt beim Fußball: Datensammelei trotz Geisterspielen

Pressebericht, spiegel.de, 19.02.2021

Im vergangenen Jahr fanden die meisten Fußballspiele ohne Fans statt. Dennoch wurden mehr als 1000 von ihnen in der umstrittenen Datei »Gewalttäter Sport« gespeichert. Wie kann das sein?

Der Ball in Deutschlands Profiligen rollt inmitten einer Pandemie weiter – auch ohne seine Anhänger im Stadion. Befürchtete Ansammlungen vor den Arenen blieben weitgehend aus. In einigen Fan-Ausnahmesituationen kam es zur Missachtung der Corona-Regeln am Ende der abgelaufenen Saison: In Nürnberg, Bremen und Karlsruhe wurde der Klassenerhalt gefeiert, in Bielefeld der Aufstieg.

Was viele von ihnen nicht wissen: Die Feierlichkeiten könnten sie in eine polizeiliche Datensammlung gebracht haben, die dazu geschaffen wurde, gewaltbereite Fans im Blick zu behalten. Das legen zumindest die Erläuterungen des Bundesinnenministeriums auf eine Anfrage des SPIEGEL nahe: »Im Zusammenhang mit Spielen unter Ausschluss der Öffentlichkeit kam es zur Zusammenkunft von Fan-/Störergruppen, z. B. in Verbindung mit dem organisierten Abbrand von Pyrotechnik«, heißt es vom BMI.

Es ist eine der Begründungen, die das Ministerium von Horst Seehofer dafür anführt, dass zwischen März und Dezember des vergangenen Jahres 1056 Fans in der Verbunddatei »Gewalttäter Sport« gespeichert wurden – in einer Zeit, als Fußballspiele vorwiegend in leeren Stadien ausgetragen wurden. Das hatte eine schriftliche Anfrage der Grünen ergeben. Insgesamt sind seit Ende Januar nun 7841 Menschen erfasst. Speichern darf die Polizei vielschichtige Personendaten und Merkmale wie Gestalt, Kleidungsstil, Tattoos, Schuhgröße oder Dialekt.

Oft erfährt man gar nicht, dass man in der Datei landet

Dieses Verzeichnis über vermeintlich gefährliche Fußballfans steht seit vielen Jahren bei Datenschützern, Fan-Verbänden und mehreren politischen Parteien in der Kritik. Denn um als Gewalttäter geführt zu werden, bedarf es keiner gewaltsamen Handlungen. Die Polizei muss nur die Personalien im Umfeld eines Fußballspiels aufnehmen, zum Beispiel bei simplen Personalkontrollen, Platzverweisen, Beleidigungen oder eingeleiteten Ermittlungsverfahren. Schon kann man in der Datei landen. Auch führen eingestellte Verfahren nicht automatisch zu einer Löschung. Und nur in Bremen und Rheinland-Pfalz erfahren Fußballfans überhaupt, wenn sie in dieser Datei landen.

Neben Fan-Ansammlungen macht das BMI auch zeitverzögerte Einträge für die Vielzahl der neu aufgenommenen Fans während der Phase der Geisterspiele verantwortlich: »Vor einer Speicherung ist jeweils eine umfangreiche Prüfung des Einzelfalls über die Polizeibehörden des Bezugs-Vereines notwendig, sodass zwischen Tatzeitpunkt und Eintrag durchaus mehrere Monate liegen können«, heißt es in einer Antwort des BMI.

Das findet der Dortmunder Fan-Anwalt Stefan Witte unglaubwürdig. Aus seiner Erfahrung glaubt er zu wissen, dass eine Meldung durch die zuständige Polizeibehörde an die Zentrale Informationsstelle Sport (ZIS) gewöhnlich unmittelbar nach dem Einsatzwochenende bei der Aktenarbeit erfolgt. Die Eintragungen könne er sich nur so erklären, dass Altfälle neu aufgerollt und anders bewertet wurden: »Die Beamten haben Corona-bedingt womöglich Ermittlungsarbeit am Schreibtisch nachholen und zusätzliche Personen identifizieren können«, sagt Witte dem SPIEGEL. Auch Thomas Kessen vom Fan-Bündnis »Unsere Kurve« hält das für plausibel. Er glaubt: »Ab dem Moment, als es keinen Fußball mehr gab, hatten nicht nur die Fans, sondern auch die Polizisten viel Zeit. Vielleicht haben sie sich mit zuvor als Lappalien eingestuften Vorfällen noch mal intensiver befasst«, so Kessen gegenüber dem SPIEGEL.

»Brandstempel« für Fußballfans

Beide können sich aber auch vorstellen, dass Verstöße gegen die Corona-Verordnung als Anlass zur Speicherung genügen. Im August 2020, also im Monat nach den Fan-Feiern von Nürnberg bis Bielefeld, landeten 159 Personen in der Datenbank. »Der große Kritikpunkt ist ja: Man weiß nicht, was zu einer Eintragung führt«, sagt Kessen. Es reiche schon, im Umfeld von tatsächlichen auffälligen Fans angetroffen zu werden. Witte bemängelt: »Es gibt keine Kriterien oder eine Checkliste. Die Datei ist völlig intransparent.« Jede Polizeidirektion könne selbst entscheiden, ab welchem Vergehen eine Person ans ZIS gemeldet werde. Das führe dazu, dass sich große Unterschiede in der Handhabung auftäten. »Diese Willkür ist den Fans ein großer Dorn im Auge«, sagt Kessen.

Doch was sind die Konsequenzen für Fans?

Neben der Erfassung sensibler Daten kann sich ein Eintrag in der Datei »Gewalttäter Sport« erheblich auf das Leben abseits des Fußballs auswirken: Bei jeder polizeilichen Kontrolle, ob im Autoverkehr oder am Flughafen, werden Beamte beim Abgleich der Personalien mit dem Eintrag konfrontiert, ohne Hintergründe und Details einsehen zu können. Es gab bereits Fälle von Vorverurteilungen. Das reichte bis hin zu Ausreiseverboten für Urlauber, wenn am Zielort ein Fußballspiel angesetzt ist. Und wer einmal drinsteht, wird in der Regel erst nach fünf Jahren gelöscht. Fan-Anwalt Witte spricht von einem »Brandstempel«.

Zuletzt offenbarte die Bundesregierung auf Anfrage der Grünen Ende 2018 Zahlen zu den Speicherungsanlässen. Daraus geht hervor, dass rund die Hälfte der gespeicherten Personen weder wegen Gewaltdelikten verdächtigt noch verurteilt wurde.

Angesichts der über 1000 Neuspeicherungen während der Geisterspiele regt sich aus Fankreisen erneut die Forderung nach einer Abschaffung der Datei. Fan-Anwalt Witte bezeichnet sie in der jetzigen Form als »sinnfrei«. Sie sei weder datenschutzkonform noch tauge sie als Instrument gegen tatsächliche Problemfans, weil sie nicht an den Ausgang von Verfahren gekoppelt sei: »Jeder szenekundige Beamte ist eine bessere Erkenntnisquelle als diese Datei«, sagt Witte.

Autor: Julian Budjan

[Quelle: https://www.spiegel.de/sport/wie-mehr-als-1000-fans-trotz-geisterspielen-als-gewalttaeter-erfasst-werden-konnten-a-053bd730-7033-473c-a504-439d5c284444]