Keine Choreographien in den Kurven, keine Schlachtgesänge der Fanlager – Kicks der Teams der drei Profiligen sind coronabedingt »Geisterspiele«. Überwacht werden Anhänger des Fußballsports trotzdem. Allein von März bis Dezember 2020 – also bei Fußballspielen überwiegend vor leeren Rängen – erfassten Ermittler über 1.000 Fans neu in der »Datei Gewalttäter Sport« (DGS) (jW berichtete). Die sportpolitische Sprecherin der Grünen-Bundestagsfraktion, Monika Lazar, hakte per Anfrage beim zuständigen Bundesinnenministerium (BMI) nach. Am vergangenen Mittwoch erhielt sie schriftliche Antworten, die jW vorliegen. Demnach sind mit Stand 4. Februar 7.841 Personen in der DGS vermerkt, davon exakt 3.248 mit Bildmaterial. Sogenannte Speicherungsgründe gibt es 9.815, Hunderte werden mehrfach nach unterschiedlichen Tatbeständen geführt.
Die DGS gibt es seit 1994. Mitglieder der Ständigen Konferenz der Innenminister und -senatoren hatten die Informationssammlung beschlossen, um als gewaltbereit eingestufte Fußballanhänger zentral zu erfassen. Sie wird als Verbunddatei beim Bundeskriminalamt (BKA) geführt und von der Zentralen Informationsstelle Sporteinsätze (ZIS) gespeist, die an das Landesamt für Zentrale Polizeiliche Dienste der Polizei Nordrhein-Westfalen angegliedert ist.
Diese Sammelwut wird seit Jahren kritisiert. »Über 1.600 der rund 7.800 in der DGS geführten Fans werden aktuell allein aufgrund einer Personalienfeststellung oder eines Platzverweises in der Datei geführt«, monierte Lazar am Freitag gegenüber jW. Nur: Wie lassen sich Neueintragungen während der »Geisterspiele« erklären? Die Antwort des BMI: Der Zeitpunkt der Neueinspeicherung sei »nicht zwingend an den Tatzeitpunkt gebunden«. Zudem erfolge eine Speicherung erst nach einer »Sachverhaltsklärung« mit »umfangreicher Prüfung des Einzelfalles«. Und die könne »mehrere Monate« dauern. Behörden rechtfertigen Neueintragungen »im Zusammenhang mit Spielen unter Ausschluss der Öffentlichkeit« damit, dass es »teilweise zur Zusammenkunft von Fan-/Störergruppen« gekommen sei, »z. B. in Verbindung mit dem Abbrand von Pyrotechnik sowie in Einzelfällen auch zu sog. Drittortauseinandersetzungen (gewalttätige Fanrivalitäten fernab der Stadien, jW).«
Grünen-Politikerin Lazar überzeugt das nicht. »In den vergangenen Monaten gab es meines Wissens keine nennenswerten Vorfälle, die Neueintragungen im dreistelligen Bereich pro Monat erklären können.« Im Gegenteil, aktive Fanszenen organisierten während des Shutdowns zahlreiche »soziale Hilfsangebote«, betonte Lazar. Zweifelhaft sei auch, ob Ermittler von konspirativen »Drittortauseinandersetzungen« Kenntnis erlangen.
Die Auskunftsfreude des BMI ist begrenzt, ein Teil der Fragen blieb unbeantwortet. Die nach der Vereinszugehörigkeit der Delinquenten etwa. Der Grund: Verschlussache des Bundesamtes für Verfassungsschutz; des »Staatswohls« wegen, teilte das BMI mit. Denn eine indirekt aufgestellte »Rangfolge« könne »Problemszenen« animieren, durch Aktivismus gewissermaßen aufsteigen zu wollen. Die Fanhilfe Hertha BSC sprach ob der Geheimniskrämerei hingegen von einer »Blockade parlamentarischer Kontrolle« durch das BMI.
Ein weiterer Kritikpunkt ist, dass Behörden (mit Ausnahme z. B. Bremens) nicht »proaktiv« die erfassten Personen über Speichergründe informieren. Das bestätigte ein Vertreter der Eisernen Hilfe, einer Fan-Initiative von Union Berlin, am Sonnabend jW: »Uns ist aus unseren Reihen kein Fall einer Neueintragung bekannt.« Das heiße indes nicht, dass es keine gebe. »Eine Informationspolitik seitens der Behörde ist faktisch inexistent«, sagte er weiter. Und Sig Zelt, Sprecher von »Pro Fans«, stellt die DGS grundsätzlich in Frage: Ermittlern gehe es offenbar »um eine umfangreiche Erfassung von Fußballfans, von denen viele einer Straftat lediglich verdächtigt werden oder wurden– oft nicht einmal das.« Und die Hertha-Fanhilfe forderte gegenüber dieser Zeitung: »Die Datei gehört zeitnah in den Schredder.«
Autor: Oliver Rast
[Quelle: https://www.jungewelt.de/artikel/396997.repression-gegen-fu%C3%9Fballfans-ab-in-den-schredder.html]