Wann genau er erfahren hat, dass die Polizei und das Innenministerium über ihn eine Akte führen? Michael* weiß es nicht mehr genau. Aber irgendwann im ersten Zweitligajahr des FC Augsburg nach dem Wiederaufstieg muss es gewesen sein, also in der Saison 2006/2007. Beim Einlass in das Rosenaustadion, wo der FCA damals noch seine Spiele austrug, teilte ihm ein Polizist mit, dass er von nun an in der „Datei Gewalttäter Sport“ aufgeführt sei. Michael erinnert sich: „Mit dabei waren eine Handvoll anderer Fans, alle Angehörige der aktiven Fanszene des FCA. Diese Eintragung war nicht anlassbezogen und ich hatte zum damaligen Zeitpunkt wie auch heute noch ein eintragsfreies polizeiliches Führungszeugnis.“
Michael führt das, was man wohl ein geordnetes Leben nennen dürfte. Er ist Mitte 30, selbstständig. Auf die Frage, ob er sich als Ultra sieht, antwortet er, der Mitglied im Fanclub „West of“ in Diedorf (Kreis Augsburg) ist: „Ich würde mich als Fußballfan bezeichnen.“
Anhand der 1994 eingeführten „Datei Gewalttäter Sport“ (DGS) sammelt das Bundeskriminalamt Informationen über Sportfans, die aus seiner Sicht den friedlichen Ablauf einer Sportveranstaltung gefährden könnten. Meistens, aber nicht nur, handelt es sich dabei um Fußball-Anhänger. Die Datei ist stark umstritten, denn bislang informiert nur das Bundesland Bremen die Betroffenen darüber, wenn sie in die Datei aufgenommen werden. Die jeweiligen Gründe dafür werden nicht bekannt gegeben. Dass es problematische Fans gibt, gegen die die Polizei ermitteln muss, ist unbestritten. Dass es Personen gibt, die sich den Eintrag in diese Datei nachweislich „erarbeitet“ haben, ebenso. Und dennoch sorgen die Methoden, die in derDGS angewendet werden, stellenweise für Verwunderung.
Maximilian Deisenhofer, sportpolitischer Sprecher der Grünen im bayerischen Landtag, sagt stellvertretend für viele Kritiker: „Diese Datei muss dringend reformiert werden. Wird ein Ermittlungsverfahren eingestellt, wird der Eintrag nicht automatisch gelöscht – das kann doch nicht sein. Es sind Bürgerrechte, die hierbei betroffen sind. Es gibt keinerlei transparente Kriterien für eine Speicherung.“
Debatte um „Ackermatches“
Aktuell steht die Datei erneut in der Kritik. Eine Anfrage der Bundestagsfraktion der Grünen an das Bundesinnenministerium ergab, dass zum Stichtag 4. Februar 2021 7841 Personen in der Dateigeführt wurden. Etwas überraschend an der Antwort des Ministeriums ist dabei: Selbst in Zeiten der Geisterspiele während der Corona-Pandemie, also zwischen März und Dezember 2020, wurden noch bundesweit 1056 Personen neu in die Datei aufgenommen. Über 1000 Neueintragungen in Zeiten, in denen gar keine Zuschauer ins Stadion dürfen?
Das Innenministerium begründet das damit, dass der Eintrag in die Datei „nicht zwingend an den Tatzeitpunkt gebunden“ ist. Wichtig sei eine umfangreiche Prüfung des Einzelfalls, „so dass zwischen Tatzeitpunkt und Eintrag durchaus mehrere Monate liegen können“. Zudem habe es in Zeiten der Geisterspiele „Zusammenkünfte von Fan-/Störergruppen“ gegeben, bei denen auch Pyrotechnik abgebrannt wurde. Fast jede zweite Neueintragung während der Pandemie geht folglich auch auf den Tatbestand des Landfriedensbruchs zurück. Außerdem habe es laut Ministerium „Drittort-Auseinandersetzungen gegeben“ – es ist der juristische Fachbegriff für Schlägereien rivalisierender Fangruppen auf Plätzen, die mit Fußballspielen nichts zu tun haben, Äcker zum Beispiel. Deswegen werden diese Treffen auch als „Ackermatches“ bezeichnet.
Die Bundestagsabgeordnete Monika Lazar, auf die die Anfrage zurückgeht, gibt sich damit nicht zufrieden. Von den „Ackermatches“ dürfte die Polizei „selten etwas mitbekommen, da diese im Geheimen organisiert werden. Größere Zusammenkünfte von ,Störergruppen‘ in Zusammenhang mit Geisterspielen sind mir nicht wirklich bekannt.“ Dass zudem so viele Altfälle erst mit großer zeitlicher Verzögerung aufgenommen werden, überzeugt Lazar nicht. Die Politikerin verweist auf fast 200 Neueintragungen im letzten Quartal 2020: „Das waren sicher keine Fälle von vor der Pandemie. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Polizeibehörden so langsam arbeiten.“
René Lau ist Strafverteidiger und Mitglied der Arbeitsgemeinschaft Fananwälte. Er vertritt oft Mandanten, die in der DGS geführt sind und widerspricht der Erklärung des Ministeriums ebenfalls: „Meine Erfahrung ist, dass nicht erst ein Ermittlungsverfahren abgewartet wird. In diese Datei kommt man sehr zeitnah rein.“ Eine größere Fanzusammenkunft habe es seiner Erinnerung nach nur einmal gegeben – beim ersten Geisterspiel zwischen Mönchengladbachund Köln im März 2020. Gegen die Theorie der „Ackermatches“ spreche aus seiner Sicht zudem, dass es kaum Eintragungen wegen Körperverletzungen gegeben habe. Diese seien aber der klassische Straftatbestand in diesem Fall.
Auch in der Augsburger Fanszene haben die Antworten des Innenministeriums für Aufsehen gesorgt. Martina Sulzberger ist Strafverteidigerin und vertritt für den Verein „Rot-Grün-Weiße Hilfe“ Augsburger Fans, die in juristischen Konflikten stecken. Auch sie kritisiert die mangelnde Transparenz: „Die Fans betrachten die ganze Datei als Frechheit. Es ist nicht klar: Wie komme ich da rein, wie komme ich da wieder raus und warum stehe ich da überhaupt drin?“ Zwar bedeutet ein Eintrag in die Datei nicht, dass der Betroffene ein Stadionverbot erhält, Repressalien im privaten Bereich seien aber sehr wohl zu befürchten. „Es ist schon passiert, dass jemand mit der Freundin in den Urlaub fahren wollte und dann am Flughafen von der Bundespolizei gesagt bekommt, dass ihm die Einreise verweigert wird, weil im Zielort bald ein Fußballspiel stattfindet.“
Dass er am Flughafen von Bundespolizisten genauer befragt wird, ist Michael gewohnt. So sei er bei der Rückreise aus dem Urlaubsland schon gefragt worden, was er in Deutschland – seinem Wohnort – vorhabe, berichtet der Fußballfan. Warum die Polizei Informationen über ihn sammelt, weiß Michael bis heute nicht, er ist sich aber sicher: „Ich werde in der Datei Gewalttäter Sport immer noch geführt.“
Vorwurf der Willkür
Warum er seit mittlerweile 15 Jahren im Fokus der Ordnungskräfte steht, ist Michael nicht bekannt. Aus seiner Sicht hat es keinen Anlass dafür gegeben – bis heute sei er nicht strafrechtlichin Erscheinung getreten, in seiner Erinnerung gab es auch keinen Zusammenstoß mit Ordnungskräften oder Polizisten.
Rechtsanwalt Lau überrascht das nicht. Schon die Identitätsprüfung könne dafür genügen, in die Datei aufgenommen zu werden: „Man kommt aufgrund der persönlichen Einschätzung eines Polizeibeamten in diese Situation.“ Tatsächlich findet sich in der Antwort des Innenministeriums zur Art der Speicherungsgründe in 779 Fällen (Mehrfachnennungen waren möglich) der Grund „Personalienfeststellung“. Das reicht für einen Eintrag in eine Datei, die sich „Gewalttäter Sport“ nennt? Auf Michael wirkt das Vorgehen willkürlich: „Ohne Verurteilung in einer Datei mit einem Namen wie ,Gewalttäter Sport‘ geführt und darüber nicht informiert zu werden, ist schlichtweg entgegen unseren rechtsstaatlichen Prinzipien, die es zu verteidigen gilt.“
Das sieht auch der Landtagsabgeordnete Maximilian Deisenhofer so. Er glaubt, dass im Zusammenhang mit der Datei Willkür herrscht: „Wenn ein szenekundiger Beamter an einem Standort besonders eifrigist und viele Meldungen ans Innenministerium weitergibt, wird so die Datei eben aufgestockt. Und wenn der Innenminister eine harte Linie fahren will, dann tut er das. Aber so kann man doch so eine Datei nicht ernsthaft führen.“
Tatsächlich ist die DGS immer wieder auch Gegenstand juristischer Auseinandersetzungen. 2008 stellte das Verwaltungsgericht Hannover fest, dass es für eine Eintragung in die „Datei Gewalttäter Sport“ an einer Rechtsgrundlage fehle. Das Urteil wurde vom niedersächsischen Oberverwaltungsgericht bestätigt. Zwei Jahre später wurden die Urteile in der Revision durch das Bundesverwaltungsgericht in Karlsruhe jedoch verworfen.
Deisenhofer plädiert für einen moderateren Umgang der Polizei mit Fußballfans. „Die Einsatzstunden sind jetzt schon leicht gesunken und es ist wenig passiert. Klar wird es immer Risikospielegeben, für die man natürlich erhöhte Polizeipräsenz benötigt. Aber wenn etwa der FC Augsburg gegen Hoffenheim spielt, würden es auch weniger Polizisten als zuletzt tun. Dazu kommt, dass wir für die Polizei ohnehin immer mehr Einsatzfelder haben.“
Wann überhaupt wieder Fans in die Stadien dürfen, ist angesichts der Corona-Lage ungewisser denn je. Irgendwann wird das aber der Fall sein – und sehr wahrscheinlich ist dann auch Michael wiederdabei. Auch wenn er im Fokus der Polizisten steht.
Auf die Frage, wie er die Situation empfindet, ob er gar eine Ohnmacht gegenüber der Staatsgewalt verspürt, antwortet er: „Ich bereue nichts.“
* Name von der Redaktion geändert
[Quelle: https://www.fnweb.de/sport_artikel,-sport-unter-beobachtung-_arid,1772110.html]