Die "Extremismus-Debatte" und ihre Folgen
Das Bund-Länder-Treffen fand am 19.04.2010 von 12 bis 16 Uhr im Deutschen Bundestag statt [Einladung lesen].
Die aktuellen Maßnahmen der Bundesregierung in Bezug auf Anti-Nazi-Aktivitäten erregen Besorgnis. So will Familienministerin Kristina Schröder die Bundesprogramme gegen Rechtsextremismus umgestalten und auf gleicher Ebene auch Linksextremismus und Islamismus in den Fokus nehmen. Hier befürchten die zivilgesellschaftlichen Projekte gegen Rechtsextremismus, dass dies finanziell zu ihren Lasten geht.
Die Absicht der Ministerin, geförderte Initiativen einer Regelüberprüfung durch den Verfassungsschutz zu unterziehen, stellt deren demokratische Reputation in Frage und bringt sie automatisch in eine Verteidigungshaltung. Dazu kommt die offensichtliche Unklarheit der Bundesregierung darüber, was der Begriff „Extremismus“ beinhaltet. Welche Initiativen gegen Linksextremismus wird sie fördern?
Das Bund-Länder-Treffen haben wir genutzt, um uns differenziert und ohne Tabus auszutauschen über die Facetten der “Extremismus-Debatte” und die Frage, ob es bereits praktische Folgen für Justiz, Polizei und Zivilgesellschaft gibt.
Dabei wurden unter anderem folgende Fragestellungen behandelt:
Situationsbeschreibung aus Sicht der Bundespolitik
Monika Lazar MdB, Sprecherin für Strategien gegen Rechtsextremismus:
Monika Lazar führte in das Thema der Veranstaltung ein und wies auf veränderte Rahmenbedingungen im Kampf gegen Rechtsextremismus hin: Mit der Regierungsübernahme durch Schwarz-Gelb und dem Amtsantritt von Familienministerin Kristina Schröder wurde deutlich, dass die Bundesprogramme inhaltlich geändert werden. Als selbst ernannte „Extremismusexpertin“ war Ministerin Schröder in den letzten Jahren schon berüchtigt, nun ist sie zuständig für die Bundesprogramme des BMFSFJ. Ihre ersten Äußerungen und die Finanzplanungen für 2010 verheißen nichts Gutes: 2 Mio € sind für die Förderung von Projekten gegen Linksextremismus und Islamismus eingeplant, aber im Ministerium ist völlig unklar, wie die Mittel konkret eingesetzt werden sollen.
Immer häufiger wird der Extremismusbegriff angewendet und damit notwendiger Protest gegen rassistische, antisemitische und neonazistische Vorkommnisse verharmlost. Als Beispiel nannte Monika Lazar unter anderem Limbach-Oberfrohna, wo zum neu gegründeten „Bündnis gegen Extremismus“ zunächst die NPD ein- und dann nach Protesten – gemeinsam mit der Linkspartei – wieder ausgeladen wurde.
Wolfgang Wieland MdB, Sprecher für Innere Sicherheit: Wolfgang Wieland setzte sich mit dem Problem "Linker Gewalt" auseinander. Er machte deutlich, dass man das Thema vor allem in Städten anzutreffender politisch motivierter Kriminalität von Links nicht ignorieren darf. Wer in einer Stadt wie Berlin am Vorabend des 1. Mai die Existenz von Straftaten aus dem linken Spektrum leugne, mache sich lächerlich.
Wolfgang Wieland machte aber genauso klar, dass Gewalt aus dem politisch linken Spektrum mit rechter Gewalt nicht gleichzusetzen ist. Die linke Szene ist immer durch starke politische Debatten gekennzeichnet. Sie wandelt sich und sie wandelt sich auch hin zum Gewaltverzicht. Die Zahl brennender Autos ist nach Debatten in der linken Szene zum Jahreswechsel abrupt eingebrochen. Die rechte Szene ist dagegen starr und autoritär geprägt. Eine Gleichsetzung in der Programmen des BMFSJ oder bei lokalen Bündnissen verbiete sich deshalb und sei für den Kampf gegen antisemitische und fremdenfeindliche Einstellungen kontraproduktiv.
Wo beginnt Extremismus? Debatte um den Extremismusbegriff
Miro Jennerjahn, MdL Sachsen, zuvor Projektkoordinator beim Netzwerk für Demokratische Kultur e.V. Wurzen verdeutlichte die Problematik der Extremismus-Theorie und benannte daraus resultierende politische Konsequenzen. Die Politik der schwarz-gelben Bundesregierung verschaffe diesem Denkansatz ein konjunkturelles Hoch. Massive Änderungen in der bislang erfolgreichen zivilgesellschaftlichen Arbeit zur Stärkung von Demokratie und gegen Rechtextremismus seien zu befürchten.
[Rede M. Jennerjahn: Extremismus-Begriff aus politischer Perspektive]
Im anschließenden Austausch bestätigten TeilnehmerInnen aus unterschiedlichen Bundesländern diese Entwicklung. Der undifferenzierte Extremismusbegriff wird vielerorts unreflektiert übernommen und erschwert die Arbeit gegen Rechtsextremismus.
Blick in die Polizeipraxis rund um Rechts- und Linksextremismus
Peter-Michael Haeberer, Leitender Kriminaldirektor, Leiter des LKA Berlin: Der Einblick in die Polizeipraxis rund um Rechts- und Linksextremismus, den Peter-Michael Haeberer den TeilnehmerInnen gewährte, erweiterte die Veranstaltung um eine wichtige Perspektive.
In der anschließenden Diskussion wurde seitens der Teilnehmenden aus den verschiedenen Bundesländern herausgearbeitet, dass es sich bei links motivierter Gewalt im Gegensatz zum Rechtsextremismus um ein Problem handelt, welches außer in Metropolen wie Berlin und Hamburg kaum praktische Relevanz besitzt. In den meisten Regionen Deutschlands geht weiterhin vom Rechtsextremismus die größte Gefahr für die Demokratie aus. Dem müssen staatliche Maßnahmen Rechnung tragen, so die einhellige Meinung der TeilnehmerInnen des Bund-Länder-Treffens.
Ein Beitrag aus zivilgesellschaftlicher Sicht
E. Kühnert beschrieb anschaulich die Schwierigkeiten, mit denen eine Initiative, die sich gegen Rechtsextremismus engagiert, in einer kleinen sächsischen Stadt konfrontiert ist.
[E. Kühnert, Colditz: "Wir bleiben braun." – Nazi-Pop im öffentlichen Raum]
Weiteres Infomaterial:
Broschüre „Gibt es Extremismus?“