Protokoll
Bund-Länder-Europa Treffen gegen Rechtsextremismus am 10. Dezember 2018
Das Bund-Länder-Europa-Treffen fand am 10.12. von 11.30 – 15.30 Uhr im Deutschen Bundestag statt.
Rechtspopulistische Meinungen werden offener als früher vertreten. Auch etliche demokratische Politikerinnen und Politiker versuchen sich diesem Rechtstrend anzupassen. Doch fühlt sich dadurch die Bevölkerung wirklich besser verstanden und eingebunden oder braucht es ganz andere Erkenntnisse und Ansätze?
Als Referenten konnten wir Johannes Hillje vom Progressiven Zentrum gewinnen. Er stellte die Studie „Rückkehr zu den politisch Verlassenen“ vor. Auf der Basis von 500 Haustürgesprächen in Deutschland und Frankreich bietet die Studie authentische Einblicke, wie in ausgewählten strukturschwachen Regionen mit einem hohen Anteil an rechtspopulistischen Wählerstimmen gedacht und empfunden wird. Das kann helfen, Handlungsoptionen zu erkennen, durch die sich der Staat das Vertrauen dieser Bevölkerungsgruppen wieder erarbeiten könnte.
Die Studie erhebt keinen quantitativen Befund, sondern ist eine qualitative Milieustudie in sozioökonomisch schwachen Regionen. Es wurden offene Fragen gestellt. Die Menschen sollten Gelegenheit bekommen, frei über das zu reden, was sie bewegt. Die durchschnittliche Gesprächsdauer betrug 20 Minuten.
Zur Einstimmung zeigte Johannes Hillje einen Ausschnitt aus dem Kurzfilm zur Studie. Der Film kann hier angesehen werden.
Die Auswertung der Gespräche ergab drei wesentliche Deutungsmuster:
1) Vergleichende Abwertungslogik gegenüber Migranten:
Abstrakt bezeichneten die Menschen als größtes Problem in Deutschland die Zahlen und Ausgaben für Migration. In Bezug auf ihren eigenen Lebensalltag stellten sie jedoch davon abweichend ganz andere Probleme dar: unsichere Arbeitsbedingungen, Geldsorgen trotz Vollzeitarbeit, Wegfall sozialer Infrastruktur.
Migration wurde also als Problem Deutschlands angeführt aufgrund eines Benachteiligungsgefühls: Das eigene soziale Leben ist schwieriger geworden, dann kommen „Neue“ ins Land und denen wird sofort geholfen. Diese Deutung beruht aber nicht auf intrinsischem Rassismus, sondern ist eine abstrakte Abwertung.
2) Problemverweigerung der Politik:
Die Befragten beanstandeten häufig: Deutschland kümmert sich nur um Außenpolitik, anstatt zuerst innenpolitisch für die „eigenen Bürger“ zu sorgen. Im Zuge eigener Probleme wird der Kurs „Deutschland zuerst“ gefordert. Aber das geschieht nicht aus einem völkisch-rassistischen Hintergrund, sondern aufgrund von Sorgen, mit denen sich Menschen nicht wahrgenommen fühlen.
Auch der Politik selbst werden Probleme angelastet, etwa in Form von Korruptionsvorwürfen („bedienen nur die Lobbyisten“) und Kapitalismuskritik.
Auf die Frage, was ihnen Hoffnung für die Zukunft gibt, antworteten Ältere oft: eine andere Politik mit positiven Veränderungen (der Staat soll es richten).
Jüngere stecken hingegen kaum Hoffnung in die Politik, sondern vielmehr in eigene Ressourcen wie Schule, Ausbildung oder Studium.
3) Verlassensein von Sozial- und Verkehrsinfrastruktur:
Viele Befragte haben einen Abbau früher vorhandener Infrastruktur persönlich erlebt und damit das Gefühl entwickelt, es würde alles schlechter. So fahren Busse seltener, Postkästen wurden abmontiert. Das ist besonders für Ältere schwierig. In Bezug auf diesen Rückbau von Infrastruktur zeigte sich in der Studie kein Unterschied zwischen Ost und West und auch nicht zwischen den ausgewählten ländlichen und urbanen Regionen.
Interessant für den politischen Befund ist, was die Menschen in ihren Antworten auf die offenen Fragen NICHT gesagt haben.
So kamen kaum zur Sprache:
- grüne Kernthemen wie Klimawandel, Umweltschutz, Landwirtschaft,
- Narrative der Populisten (Islamisierung, Europaskepsis),
- Ablehnung des demokratischen Systems (aber Politikwechsel innerhalb des Systems war gewünscht),
- Verschwörungstheorien.
Hillje empfahl anhand der Ergebnisse für die politische Auseinandersetzung insbesondere fünf Handlungsfelder:
1) Innere Sicherheit als Voraussetzung für äußere Solidarität:
Viele Menschen fragen: „Warum Leute aus anderen Ländern unterstützen, wenn ich selbst so viele ungelöste Probleme habe, die seit Jahrzehnten nicht angegangen wurden?“ Hierauf muss Politik antworten.
2) Infrastruktur zur Förderung der Chancengleichheit:
Infrastruktur und Chancengleichheit sollten verknüpft betrachtet werden. So ist die kulturelle Teilhabe eingeschränkt, wenn Menschen aufgrund fehlender öffentlicher Verkehrsverbindungen nicht unkompliziert in städtische Kulturzentren fahren können.
3) Strukturstärkung durch lokale Parteipräsenz:
Damit Menschen sich nicht abgehängt und zurückgelassen fühlen, sollten gerade in schwierigen Regionen Bürgerbüros eröffnet werden. Diese Anlaufmöglichkeiten sind wichtig, damit Bürgerinnen und Bürger ihre Probleme und Wünsche direkt an die Politik richten können.
4) Strukturwandel gesellschaftsverträglich gestalten:
Die Menschen interessieren sich in ihrem Lebensalltag nicht für die allgemeinen politischen Konzepte, sondern für Fragen wie: Was passiert mit mir in dem Wandel? Wird mein Arbeitsplatz in zehn Jahren noch bestehen? Es ist wichtig, den Diskurs darüber zu verbessern und konkreter zu gestalten.
5) Selbstbewusstsein gegenüber populistischen Narrativen:
Die demokratische Politik muss sich nicht von rechtspopulistischen Narrativen treiben und verunsichern lassen. Die Befragten haben sich kaum auf solche Narrative bezogen. Die CSU hatte z.B. im bayrischen Landtagswahlkampf 2018 versucht, mit einem Kopieren von AfD-Positionen zu punkten, und es misslang.
Die vollständige Studie kann hier heruntergeladen werden: https://www.progressives-zentrum.org/wp-content/uploads/2018/03/Ru%CC%88ckkehr-zu-den-politisch-Verlassenen_500-Gespra%CC%88che-in-rechtspopulistischen-Hochburgen-in-Deutschland-und-Frankreich_Studie-von-Johannes-Hillje_Das-Progressive-Zentrum.pdf
Dem Impulsvortrag folgte eine angeregte Diskussion.
Es gab einen Austausch darüber, ob das Benachteiligungsgefühl im Osten nicht tendenziell stärker ist. Zwar konnte die Studie dies nicht belegen, sie wurde jedoch auch ausschließlich in strukturschwachen Regionen durchgeführt. Ob sich in gut gestellten Regionen in Ost und West ein unterschiedlich starkes Benachteiligungsgefühl dargestellt hätte, ist nicht untersucht worden.
Man kann davon ausgehen, dass durch den politischen Transformationsschock und die damit doch verbundene Entwertung von Lebensleistung im Osten durchaus ein spezielles Gefühl entstanden ist, Bürger zweiter Klasse zu sein. Besonders Ältere erheben deshalb den Anspruch, Politik solle sich mehr um sie kümmern – zum Teil auch als Erbe der DDR-Sozialisation.
Den Vorwurf, Politik würde sich vor allem um Außenpolitik kümmern und die innenpolitischen Bedarfe nicht ausreichend würdigen, hatten auch Grüne im Umgang mit Menschen vor Ort oft gehört. Probleme wie Arbeit im gleichen Job seit mehr als zehn Jahren und nie eine Gehaltserhöhung, während alles teurer wird, oder schlechte Gemeinschaftsernährung von Kindern in Schulen sind Themen, an denen sich das alltägliche Lebensgefühl festmacht. Dabei ist die objektive Situation der Menschen häufig (wenn auch nicht immer und überall) besser als die subjektive Stimmung im Land. Das gilt aber nicht pauschal. Vielmehr ist – auch in strukturschwachen Regionen – die Lage von Dorf zu Dorf unterschiedlich. In manchen Dörfern herrscht eine kulturelle Hegemonie der Rechtspopulisten, die alles runterreden und den Frust weiter anheizen. In anderen Dörfern haben sich Menschen zusammengefunden und einen kleinen Laden eröffnet oder einen Fahrdienst gegründet. Solche lokalen Initiativen sollte die Politik anregen und unterstützen. So haben die Menschen das Gefühl, selbst auf ihre Lebensumstände positiv einwirken zu können.
Die vielfach schlechte und genervte Stimmung wird durch das Verhalten von PolitikerInnen mit bestimmt, wenn es wochenlang um persönliche Querelen oder die Karriere einzelner Beamter geht, während die Bevölkerung sich eine Lösung für strukturelle Probleme wünscht. Politik muss an ihrer öffentlichen Kommunikation arbeiten und schauen, mit welcher Ansprache man die Menschen wieder mitnehmen kann.
Neben einer Verbesserung der Kommunikation braucht es eine stärkere Daseinsvorsorge in vielen Gebieten. Denn wenn diese fehlt, trifft es immer die „Abgehängten“ am stärksten. Politik ist gefordert, solche Herausforderungen des Strukturwandels gesellschaftsverträglicher gestalten.
Neben dem Austausch über Einzelforderungen wurde betont, dass die Infrastrukturdebatte sehr grundsätzlich geführt werden muss, mit der Frage: Was sind wir uns eigentlich wert? Überall dort, wo Infrastruktur in den vergangenen Jahren abgebaut wurde, brauchen wir wieder mehr Staat, mehr Geld für Daseinsvorsorge. Und die Konzepte dazu müssen lebensnah und verständlich kommuniziert werden, abgehobene Floskeln sprechen die Menschen nicht an.
Hillje erklärte nochmal genauer die Aussage, man habe bei der Befragung keine Verschwörungstheorien gefunden. Klassische Verschwörungstheorien wurden nicht geäußert, wohl aber hat Stimmungsmache das Bild der Realität verzerrt. Objektiv ist zum Beispiel die innere Sicherheit statistisch gewachsen, die Kriminalitätsrate gesunken. Durch mediale Berichte entstand aber das Gefühl, es sei in Deutschland unsicherer geworden. Konkret befragt, konnten die Menschen dafür jedoch keine eigenen Erfahrungen benennen.
Abschließend gab es einen Austausch zu den Ereignissen in Frankreich. Hillje erklärte, die Fragen der Studie seien im September 2017 gestellt worden. Damals hatte Migration noch eine andere Relevanz als heute. Die Studienergebnisse liefern aber Erklärungen für die Stimmung, die heute in Frankreich herrscht und zu den Protesten der „Gelbwesten“ geführt hat. Die wirtschaftliche Lage in Frankreich ist schlechter als bei uns in Deutschland. Von Aufwärtstrends profitieren eher die Reichen. Die Hoffnungen der Ärmeren hat der Präsident enttäuscht.
Nach einer Pause folgten die Berichte aus den Ländern.
Über die Aktivitäten der grünen Bundestagsfraktion wurde berichtet, dass aktuell rechte Netzwerke in der Bundeswehr beleuchtet werden. Dazu ist im Januar eine Sondersitzung von Innen- und Verteidigungsausschuss im Bundestag geplant.
Auch wurde auf das grüne Fachgespräch zu den Reichsbürgern am 18. Februar im Bundestag hingewiesen, zu dem mehrere fachkompetente Personen Impulse geben werden.
Im Bundestag hat die AfD sich rhetorisch nach der Sommerpause nochmal radikalisiert. Aktuell standen Kampagnen gegen den UN-Migrationspakt im Mittelpunkt. In der vergangenen Sitzungswoche wurde im Plenum drei Mal darüber debattiert. Auch gab es mehrere Petitionen dazu. Ein Mitarbeiter eines AfD-Abgeordneten, der im Petitionsausschuss sitzt, hat Interna an die Öffentlichkeit weitergegeben. Die Auseinandersetzung mit AfD-Positionen im Plenum funktioniert gut, auch gemeinschaftlich mit den anderen Fraktionen.