Flucht nach Europa – Mittelmeer und Menschenrechte: Fotovortrag und Diskussion am 19. September 2018

Veranstaltungsbericht, 04.10.2018

Nachdem die Balkanroute und der Seeweg über die Ägäis dicht gemacht wurden, ist das zentrale Mittelmeer für viele Flüchtende der einzige Weg nach Europa. Während sich die EU immer mehr aus der Seenotrettung zurückzieht, springen NGOs ein, werden bei ihren Rettungsmissionen aber behindert und kriminalisiert. Vor dem Hintergrund dieser angespannten Lage berichtete Erik Marquardt in Chemnitz mit einem eindrucksvollen Fotovortrag von seinen eigenen Erfahrungen als Seenotretter.

Seine Geschichten handelten von überfüllten Schlauchbooten, von deren Passagieren kaum einer schwimmen kann und nur wenige Schwimmwesten tragen. Er erzählte von Hautverätzungen durch gefährliche Dämpfe aus einem Gemisch aus Benzin, Urin und Salzwasser, das sich im Boot sammelt. Er schilderte die Situation auf einem übervollen Rettungsboot, das über Tage auf Hilfe der Küstenwachen warten und auf dem Meer bei schwindenden Reserven und fehlendem Platz zum Schlafen ausharren musste. Er beschrieb auch den enormen Aufwand, den die Vorbereitung eines Seenotrettungseinsatzes erfordert, wie Seenotrettung abläuft und wie sich NGOs organisieren.

Und der Fotojournalist räumte auf mit Seenotrettungsmärchen, die im Netz kursieren: Der Behauptung, Seenotretter würden Schleuserboote von der lybischen Küste mit Lichtsignalen anlocken, setzte er entgegen, dass die einzuhaltende Entfernung zur lybischen Küste unter Berücksichtigung der Erdkrümmung viel zu weit sei für Lichtsignale. Wenn Fotos Schlauchboote ohne Motor zeigen, beweise das nicht – wie RechtspopulistInnen oftmals behaupten – die Boote würden ohne eigenen Antrieb auf offene See geschleppt, weil dort Rettung wartet, sondern es dokumentiere die Arbeit der Seenotretter, die u.a. mit dem Abmontieren der Motoren verbunden sei, um Menschen zu bergen. Der Forderung einer Rückführung von Geflüchteten nach Libyen, wie sie u.a. Österreichs Kanzler Kurz und Sachsens Ministerpräsident Kretschmer vorbringen, setzte er die Schilderung der barbarischen Lage im Land entgegen, die geprägt sei von Menschenlagern, Sklavenmärkten, systematischen Vergewaltigungen, denen nur wenige Frauen entkommen, und von Methoden des Kidnappings, das ganzen Familien die Existenz nimmt.

Aktuell sind immer noch Seenotrettungs-Schiffe in Häfen festgesetzt. NGO-Schiffe im Einsatz werden nicht mehr von der Rettungsleitstelle in Italien über Menschen in Seenot informiert, sondern nur noch die lybische Küstenwache, die internationales Recht wie das Hency-Urteil von 2012 ignoriert und milizartig vorgeht. Auch Aufklärungsflugzeuge werden zu stoppen versucht, vermutlich um den Erfolg der Abschottung und Abschreckung zu belegen, indem weniger Fälle von Ertrinkenden bekannt werden.

Zur Frage von Volkmar Zschocke, wie die Schilderungen im Vortrag von Erik Marquardt über Menschenrechtsverletzungen überein gehen mit einer EU, die sich dem Humanismus verschrieben hat, verwies Prof. Matthias Niedobitek, Europaexperte der TU Chemnitz auf die rechtliche Verfasstheit der Europäischen Union. „Menschenrechte existieren rein rechtlich gesehen nicht an sich“, so der Professor. Aus juristischer Perspektive gelte die EU-Menschenrechtscharta nicht für alles Handeln, sondern nur für die Durchsetzung von EU-Recht. Zur Frage, wie Seenotrettung aus grüner Sicht ausgestaltet sein sollte, informierte ich über einen Entschließungsantrag der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen, der Rahmenbedingungen fordert, die ein effektives Vorgehen gegen Schleuser ermöglichen, aber auch eine EU-Rettungsmission neben der Grenzschutzmission Frontex vorsieht.

Die Aussicht auf einheitliche Anerkennungsquoten, wie sie von der EU-Kommission vorgeschlagen wurden, schätzt Prof. Niedobitek als gering ein, da die Mitgliedstaaten erfahrungsgemäß nicht bereit seien, Souveränitätsrechte an Frontex und eine europäischen Asylagentur abzugeben.

Auf die Publikumsfrage, was man als einzelne Person tun könne, um Seenotrettung und Humanismus zu stärken, schlägt Erik Marquardt vor, die Seebrücke-Aktionen und NGOs, aber auch Integration in der eigenen Stadt zu unterstützen. Abschließend warb er für sein eigenes neues Projekt #civilfleet

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