Im Bundestag stimmen wir heute gegen das Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz (Drucksache 18/6185). Wir erklären zur Abstimmung gemäß § 31 der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages:
Immer mehr Menschen verlassen weltweit aus größter Not ihre Heimat und flüchten. Sie fliehen vor Gewalt, Terror, Krieg und Verfolgung. Den Menschen, die nach Europa und Deutschland fliehen, wollen wir mit offenen Armen begegnen. Sie haben ein Recht auf Schutz und ein menschenwürdiges Leben.
Wir sind einerseits erschüttert über die gewalttätigen Übergriffe auf Geflüchtete in Deutschland. Immer wieder brennen geplante oder bereits bewohnte Flüchtlingsunterkünfte. Bereits jetzt gab es dieses Jahr über 500 Angriffe auf Unterkünfte. Andererseits freuen wir uns über die große Willkommenskultur, die wir auf Bahnhöfen, in den Erstaufnahmeeinrichtungen und in den Städten und Gemeinden erleben. Viele zehntausend Menschen leisten tagtäglich ehrenamtlich unglaublich viel für eine gelebte Willkommenskultur in Deutschland. Sie zeigen immer und immer wieder aufs Neue ihre Solidarität mit den Geflüchteten. Diesen Menschen gilt unser Dank und unsere Anerkennung. Es wäre jetzt Aufgabe der Bundesregierung sich dieser Hilfsbereitschaft mit deutlichen Verbesserungen im Asylrecht anzuschließen.
Der vorliegende Gesetzentwurf enthält notwendige finanzielle Zusagen des Bundes, der sich künftig dauerhaft, strukturell und dynamisch an den Kosten der Flüchtlingsaufnahme beteiligt und darüber hinaus weitere finanzielle Mittel zur Verfügung stellt. Vernünftig ist auch, dass der Bau von Unterkünften für Flüchtlinge durch Änderung der baurechtlichen Standards flexibilisiert wird, auch wenn sich diese Standardsenkung nicht verstetigen, und auf andere Bereiche ausgeweitet werden darf. Wir erkennen auch an, dass Staatsangehörige der Westbalkanstaaten unter engen Voraussetzungen einen Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt erhalten können. Dies ist allerdings mit seinen Einschränkungen alles andere als ein Einstieg in ein Einwanderungsgesetz ist, sondern eine geringfügige, allenfalls symbolische Teilliberalisierung des bestehenden Systems, die zudem nur bis 2020 befristet ist.
Dem stehen die härtesten Asylrechtsverschärfungen seit 20 Jahren gegenüber. Diese Verschärfungen lehnen wir ab. Wir wollen sie als Abgeordnete des Deutschen Bundestages nicht durch Beschluss dem Bundesrat zur Annahme vorlegen. Wir hatten auf ihren Inhalt im parlamentarischen Verfahren keinerlei Einfluss. Die Verantwortung für diese zum Teil verfassungs- und europarechtswidrigen Verschärfungen des Flüchtlingsrechts trägt allein die Koalitionsmehrheit, die sie zum Preis für die dringend notwendige Finanzierung der Flüchtlingsaufnahme erklärt hat. Der Gesetzesentwurf geht bei den Verschärfungen sogar über die Vereinbarungen der Ministerpräsidentenkonferenz hinaus.
Das Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz ist eine Mogelpackung. Es enthält zahlreiche Abschreckungs- und Ausgrenzungsvorschriften, aber nicht eine einzige Maßnahme, die geeignet wäre, Asylverfahren tatsächlich zu beschleunigen. Die Koalition hat sich geweigert, eine Regelung zu pauschalen Anerkennung von Flüchtlingen aus Syrien, Eritrea, Irak und Somalia vorzuschlagen. Sie hat keine Altfallregelung für langandauernde Verfahren entworfen. Und sie hat die Grüne Forderung nach einer Aufhebung der obligatorischen Widerrufsprüfung gemäß § 73 Absatz 2a AsylVfG zurückgewiesen.
Stattdessen werden nun auch Albanien, Kosovo und Montenegro in die Liste sogenannter sicherer Herkunftsstaaten aufgenommen. Die Bestimmung von Bosnien-Herzegowina, Mazedonien, Serbien, Senegal und Ghana zu sicheren Herkunftsstaaten wird bestätigt, obwohl Roma, LGBTTI* und Journalist*innen in den Staaten des Westbalkans weiterhin Verfolgung droht und einvernehmliche gleichgeschlechtliche Handlungen unter Erwachsenen im Senegal und Ghana immer noch unter Strafe stehen. Auch die allgemeine Sicherheitslage in den Westbalkanstaaten gibt weiterhin Anlass zur Sorge. Der Bundestag hat erst im Sommer 2015 den KFOR-Einsatz der Bundeswehr im Kosovo verlängert, weil das Land noch immer instabil ist.
Für die Geflüchteten aus diesen Staaten ist dieses Gesetz ein schwerer Angriff auf das Prinzip der Einzelfallprüfung, einem Grundpfeiler des Asylrechts. Die Anträge der Geflüchteten werden zwar formal noch einzeln geprüft, doch drängt sich eine ablehnende Entscheidung faktisch auf. Das Bundesverfassungsgericht hat in diesem Zusammenhang unmissverständlich festgestellt, dass ein Staat nicht zum sicheren Herkunftsstaat bestimmt werden kann, solange dort auch nur Angehörige einer einzigen Gruppe verfolgt werden (2 BvR 1507 und 1508/93). Der UNHCR, die EKD und die Deutsche Bischofskonferenz haben in ihren Stellungnahmen zum Gesetzentwurf der Bundesregierung gerügt, dieser missachte insoweit die Vorgaben der Richtlinie 2013/32/EU (Verfahrensrichtlinie).
Neben die bisherigen Beschränkungen der Rechtsschutzmöglichkeiten für Flüchtlinge aus sogenannten sicheren Herkunftsstaaten treten mit diesem Gesetzentwurf nun weitere massive Einschränkungen ihrer sozialen und wirtschaftlichen Rechte: Sie werden dauerhaft und unbegrenzt verpflichtet, in den Erstaufnahmeeinrichtungen zu verbleiben. Mit der daraus folgenden Ausweitung der Residenzpflicht, des absoluten Arbeitsverbotes und der Sachleistungsprinzips werden flüchtlingspolitische Erfolge des letzten Jahres zurückgedreht. In mehreren Bundesländern dürfte für Kinder und Jugendliche in diesen Einrichtungen die Schulpflicht entfallen.
Wir halten auch die Verpflichtung zum Verbleib in den Erstaufnahmeeinrichtungen bis zu 6 Monaten integrations- und flüchtlingspolitisch für kontraproduktiv. Der Druck der Kommunen auf die Landesregierungen, die Höchstdauer auszuschöpfen, wird allein schon aus finanziellen Erwägungen enorm sein. Geflüchteten wird selbst dann der Auszug aus den Erstaufnahmeeinrichtungen verboten, wenn sie selbst privaten Wohnraum zu günstigeren Kosten oder gar eine kostenlose Unterkunft bei Freunden oder Verwandten finden. Betroffen sind davon auch Flüchtlinge mit sogenannter „guter Bleibeperspektive“.
Mit der Verpflichtung zum Verbleib in den Erstaufnahmeeinrichtungen geht die Residenzpflicht, ein absolutes Arbeitsverbot und in etlichen Bundesländern auch der Ausschluss von der Schulpflicht einher. Das Sachleistungsprinzip wird zwingend für den notwendigen Bedarf, einschließlich Ernährung und Kleidung, und als Soll-Bestimmung für den notwendigen persönlichen Bedarf, wie z.B. Zigaretten oder Fahrkarten (so dass der Staat immer weiß, wer sich wo befindet). Diese Regelung produziert sozialen Sprengstoff, Konflikte und Verelendung in den Erstaufnahmeeinrichtungen, was Gewalt und Kriminalität befördern wird. Damit schafft man keine Akzeptanz in der Bevölkerung – im Gegenteil.
Wir haben uns immer für die Abschaffung des Asylbewerberleistungsgesetzes eingesetzt. Mit dem vorliegenden Gesetzespaket wird das Asylbewerberleistungsgesetz massiv verschärft. Verfassungswidrig ist die Herabsenkung von Leistungen unterhalb des soziokulturellen Existenzminimums durch die pauschale Leistungsanspruchseinschränkung für bestimmte Gruppen. Das kann mit den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts nicht in Einklang gebracht werden. Aus der Menschenwürde folgt nämlich, dass das einheitliche, das physische und soziokulturelle Existenzminimum in jedem Fall und zu jeder Zeit zu gewährleisten ist. Die Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht relativierbar.
Eine bundesweite Gesundheitskarte wird es durch diesen Gesetzentwurf auch künftig nicht geben. Wie bisher dürfen die Länder sie ausstellen, sie muss aber fortan den Vermerk enthalten, dass sie nur zu Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz berechtigt. Damit wird das erfolgreiche Modell von Bremen, Hamburg und NRW in Frage gestellt. Geflüchtete bleiben Patienten zweiter Klasse, die sich mit einer Notversorgung zu begnügen haben.
Völlig unverhältnismäßig und kontraproduktiv sind das Verbot der Ankündigung von Abschiebungen, die Beschränkung der Befassung der Härtefallkommissionen auf Fälle, in denen kein Rückführungstermin feststeht und die Verschärfung der Schleuserstrafbarkeit, statt die illegale Einreise zu entkriminalisieren und dadurch die Strafverfolgungsbehörden zu entlasten. Diese Regelungen werden den Erfolg bestehender freiwilliger Rückführungsprogramme torpedieren und einen enormen Kosten- und Personalaufwand verursachen. Bei den Winterabschiebungsstopps wird der Handlungsspielraum der Landesregierungen bei Abschiebungsstopps ohne Not eingeschränkt. Die vorübergehende Ermächtigung zur Ausübung der Heilkunde durch Asylsuchende ohne ärztliche Approbation, die allerdings für ihre Tätigkeit nicht vergütet werden dürfen, sehen wir genauso kritisch wie die Bundesärztekammer. Darin liegt ein doppelter Gleichheitsverstoß: Manche ausländischen Ärzte dürfen dann – anders als Deutsche – ohne Approbation ihren Beruf ausüben, allerdings nur bestimmte ausländische Patienten behandeln, denen dadurch faktisch der Zugang zu dem Regelsystem der Gesundheitsversorgung droht verwehrt zu werden.
Die Verbesserungen beim Zugang zu den Integrationskursen sind weitestgehend folgenlos, weil der Kreis der Berechtigten restriktiv und teilweise vage formuliert ist und lediglich ein nachrangiger Zugang statt eines Teilnahmeanspruchs geschaffen wird. Letztlich wird diese angebliche Verbesserung an den schon jetzt fehlenden Kursplätzen scheitern oder daran, dass die Kurszulassung nach den Regelungen der Verordnung zum Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz auf drei Monate befristet wird, was faktisch eine Kursteilnahme vereitelt.
Als mindestens problematisch bewerten wir auch die Ermöglichung der Ernennung von Beamten als Richter auf Zeit bei den Verwaltungsgerichten sowie Betrauung von Richtern auf Probe als Einzelrichter mit Asylangelegenheiten, trotz fortbestehender Beschränkungen bei der Zulassung von Rechtsmitteln. Rechtssicherheit kann nicht durch die Beschränkung von Rechtschutzmöglichkeiten hergestellt werden. Solange die Berufung in Asylsachen so selten zugelassen wird, solange wird sich auch eine einheitliche Rechtsprechung, die dringend notwendig wäre, nicht herausbilden können.
Selbst wenn die geringen Spielräume, die den Ländern noch bleiben, von Bundesländern mit grüner Regierungsbeteiligung genutzt werden: In Ländern wie Bayern und Sachsen wird keine Regelung zu Gunsten der Geflüchteten ausgelegt.
Trotz der lange überfälligen finanziellen Zusagen für Länder und Kommunen können wir in der Summe angesichts dieser massiven Verschlechterungen und Asylrechtseinschränkungen für Geflüchtete nur zu dem Schluss kommen dieses Gesetz abzulehnen.
Berlin, 15.10.15
Volker Beck MdB, Sven-Christian Kindler MdB, Peter Meiwald MdB, Monika Lazar MdB, Julia Verlinden MdB, Jürgen Trittin MdB, Corinna Rüffer MdB, Stephan Kühn MdB