Deutscher Bundestag, 165. Sitzung vom 17.06.2020, TOP 4
Monika Lazar (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Roland Jahn! "Wir fordern ein besseres Leben, wir fordern freie Wahlen", mit diesen und anderen Losungen zogen vor 67 Jahren Leipziger Arbeiterinnen und Arbeiter ins Zentrum der Stadt. Bereits vor dem 17. Juni 1953 hatte sich in der ganzen DDR der Widerstand der Arbeiter gegen die harten Arbeits- und Lebensbedingungen und gegen die schlechte Versorgungslage formiert. Die Unzufriedenheit brach sich in Stadt und Land Bahn. Aus den Forderungen, Normerhöhungen zurückzunehmen, wurde der Ruf nach Freiheit, freien Wahlen, einer neuen Regierung und dem Ende des Sozialismus.
Aber noch am selben Tag wurde die Hoffnung der Aufständischen begraben. In Leipzig war die Streikwelle in der Nacht zuvor angekommen. Bis Mittag demonstrierten schon über 100 000 Menschen in der Stadt. In der Beethovenstraße versuchten viele, das Untersuchungsgefängnis zu stürmen, wurden aber mit Waffengewalt davon abgehalten. Um 14 Uhr trafen sowjetische Truppen ein und trieben die Demonstranten auseinander. Um 15 Uhr war in Leipzig der erste Tote zu beklagen. Ein 19-jähriger Mann starb, als Stasioffiziere und Volkspolizisten in die Menge schossen. Neun Tote und mindestens 95 Verletzte waren im Bezirk Leipzig zu beklagen. In den folgenden Tagen ebbte die Streikwelle zwar nicht komplett ab, aber das Ende des Aufstands war besiegelt. Bis zum 11. Juli 1953 galt in Leipzig das Kriegsrecht. Unmittelbar nach dem Aufstand setzte eine große Verhaftungswelle ein. Von den fast 1 000 Verhafteten in Leipzig wurden in den Folgemonaten über 100 Personen zu langjährigen Haftstrafen verurteilt, einer auch zum Tode. Noch heute erinnern in der Leipziger Innenstadt zwei in Bronze gegossene Kettenspuren an die Niederschlagung des Aufstandes.
Warum sollte man nun so detailliert von den Ereignissen in einer Stadt sprechen? Wir müssen verstehen, dass sich die Geschichte des Aufstandes vom 17. Juni 1953 aus vielen unterschiedlichen Bildern der Hoffnung und des Leids zusammensetzt und dass sie an vielen verschiedenen Orten geschrieben wurde.
Ich persönlich hatte ja ein etwas schwieriges Verhältnis zu diesem Datum. Aufgewachsen in der DDR, wurde uns schon in der Schule beigebracht, dass damals ein vom Westen gesteuerter konterrevolutionärer Putschversuch unternommen werden sollte. Das war wenig glaubhaft und eben die typische SED-Bürokratensprache, die man schon sehr schnell satt hatte und die mehr verbarg als erklärte. Die Interpretation in der Bundesrepublik fand ich allerdings auch nicht sonderlich überzeugend. Da überwog für mich eher ein wohlfeiler und paternalistischer Blick auf die armen Brüder und Schwestern im Osten.
Im Grunde war es für Ost- und Westdeutschland erst nach 1990 und nach der friedlichen Revolution 1989 möglich, einen entstaubten und emanzipierten Blick auf die Ereignisse rund um den 17. Juni 1953 zu werfen. Die Aufstände in Polen und Ungarn 1956, der Prager Frühling 1968, die Streiks und Demonstrationen in Polen in den 1970er- und 1980er-Jahren und schließlich das Ende der Diktaturen in Osteuropa, das alles zeigt uns: Der Wunsch nach Freiheit lässt sich nicht für immer mundtot machen und von Panzern überrollen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)
So warf der 17. Juni 1953 seinen Schatten viele Jahre in die Zukunft und prägte die Ängste der Opposition in der DDR. Noch im September 1989, bei den ersten Montagsdemonstrationen in Leipzig, als das bisherige System schon erste Risse zeigte, und auch am 9. Oktober, dem entscheidenden Tag in Leipzig, war noch immer die Angst vor einer gewalttätigen Niederschlagung da, auch bei jungen Leuten. Doch zum Glück fielen diesmal keine Schüsse.
Der 9. Oktober 1989 zeigte, dass es möglich war, gemeinsam das Trauma des 17. Juni 1953 zu überwinden. Aus der Forderung nach einem besseren Leben war die Forderung nach Demokratie, Freiheit und Menschenrechten geworden, und der Staat konnte den Ruf nach Freiheit nun nicht mehr ignorieren. Die Opfer des 17. Juni 1953 mahnen uns, die Werte von Freiheit und Demokratie hochzuhalten und zu verteidigen, und das muss auch weiterhin unsere gemeinsame Aufgabe sein.
Vielen Dank.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, der FDP und der LINKEN)