Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Gemeindemitglieder,
ich freue mich sehr, heute hier reden zu dürfen und finde die Idee mit den "Sonntagsreden" zum 25. Jahrestag der Friedlichen Revolution eine ganz tolle Idee.
Da die Kirchen, besonders die evangelische Kirche, einen entscheidenden Anteil an den Vorbereitungen der Friedlichen Revolution hatten, indem sie in den Jahren davor vielen oppositionellen Gruppen ihre Räume und mehr geöffnet haben, ist das auch ein passender Ort für die "Sonntagsreden".
In Markkleeberg gab es schon in den 80er Jahren eine gute ökumenische Zusammenarbeit und ich erinnere deshalb gleich an dieser Stelle an die evangelischen Pfarrer Herrn Johne und Herrn Lippmann und an den katholischen Pfarrer Achim Paschke. Da die Kirchen in Markkleeberg-West auch nebeneinander lagen, liefen die Dinge häufig fast "automatisch".
Mich persönlich hat die schlimme Umweltsituation im Südraum Leipzig, verbunden mit der allgemeinen politischen Situation der DDR und der gesamten Blockkonfrontation, Mitte der 80er Jahre politisiert.
Die Umweltverschmutzung im Lebensumfeld spürte jeder unmittelbar:
man roch, sah und schmeckte es.
Da gab es tiefe Löcher in der Landschaft vom Braunkohletagebau, Dörfer, die der Kohle im Wege waren, wurden einfach platt gemacht, die Flüsse waren schwarz mit lila Schaumkronen und stanken nach Phenol und an den Chemie- und Brikettfabriken konnte niemand vorbeifahren ohne sich Mund und Nase zuzuhalten.
Wenn man den Westbesuch erschrecken wollte, fuhr man nach Mölbis oder Espenhain, die zu den schmutzigsten Dörfern in der DDR gehörten.
Man merkte schnell: Wenn man unbequeme Fragen stellt, fällt man schnell "negativ" in der Schule und im Studium auf.
Als Einzelne konnte man kaum etwas verändern, und in staatlichen Strukturen durfte man bestimmte Fragen gar nicht stellen oder bekam keine Antworten auf die Fragen.
Ich fand dann zur Christlichen Umweltinitiative Rötha mit dem damaligen "Umweltpfarrer" Walter-Christian Steinbach.
Von dort aus wurden die Umweltgottesdienste im Südraum Leipzig z.B. in Deutzen organisiert oder "1 Mark für Espenhain" gesammelt.
Seit 1988 ging ich auch in Abständen zum Friedensgebet in die Nikolaikirche. Bis September 1989 waren dort die sog. "Ausreisewilligen" noch tonangebend. Eine Ausreise war für mich aber keine Alternative.
Als im Sommer 1989 die Leute über die Botschaften - Ungarn, CSSR - raus sind, dachte ich: Das will ich nicht.
Ich bleibe hier und will hier in diesem Land was verändern. Und als es die Möglichkeit gab, in Leipzig auf die Straße zu gehen, dachte ich:
Genau das ist es. Das ist die Stelle, wo du jetzt richtig bist!
1989 studierte ich in Leipzig an der Handelshochschule im letzten Studienjahr. Die Handelsschule war mitten im Zentrum. Die meisten in meiner Seminargruppe waren Genossen und Genossinnen. Ich war als eine von ganz wenigen die nicht in der Partei waren.
In der Hochschule wurde öffentlich aufgerufen, sich nicht an den "konterrevolutionären Aktionen" zu beteiligen.
Da fielen drastische Worte. Aber mir war das egal.
Am 25. September, wo auch das erste Mal versucht wurde, aus der Nikolaikirche heraus eine Demo zu machen, war ich dabei.
Es war ganz praktisch denn ich war ja tagsüber sowieso in der Leipziger Innenstadt. Und der Montag war auch günstig.
Da 17 Uhr nicht nur die Friedensgebete losgingen, sondern auch an der Hochschule Parteiversammlung war, gingen die Lehrveranstaltungen nur bis 16 Uhr.
Am 2. Oktober, da hatte mein Bruder Geburtstag. Der Demonstrationszug ging bis zur Blechbüchse. Dort war Stop und ich bin über die Hinterhöfe abgehauen, weil ich keine Lust hatte, einkassiert zu werden.
Ich habe mein Fahrrad geschnappt und bin völlig aufgewühlt nach Hause gefahren. Als ich zuhause zur Feier kam, hatte man dort keinerlei Verständnis für mich.
Ich war völlig schockiert:
Ich hatte etwas Einmaliges erlebt, auch Angst gehabt. Emotional noch ganz aufgeladen. Und dann kommt man nach Hause und die feiern ganz normal Geburtstag. Ich kam mir vor wie im falschen Film.
Vor dem 9. Oktober war die Stimmung total aufgeheizt.
Meine Mutter meinte, ich solle da bloß nicht hingehen. Ich wusste, meine Eltern haben Angst um mich. Damals gab es auf der AGRA Hallen und die Pferdeställe, die für Inhaftierte frei geräumt wurden.
Als es friedlich blieb, hat irgendetwas plumps gemacht, so erleichtert waren alle.
Ich dachte: Jetzt ändert sich wahrscheinlich wirklich was.
Die Wochen vom 9.10. bis zum 9.11.1989 ließen mich ahnen, dass es möglich ist, eine Gesellschaft gewaltfrei zu verändern.
Wir erlebten eine wohl einmalige Ausnahmesituation.
Dieses Gefühl prägt mich bis heute und hilft auch bei schwierigen Entscheidungen.
Als die Grenze offen war, veränderte sich etwas.
Aus "Wir sind das Volk" wurde "Wir sind ein Volk", die schnelle Wiedervereinigung wurde gefordert, da dachte ich:
Jetzt bekommst du den Kohl, das kann ja auch nicht sein.
Ich wollte auch jetzt die DDR nicht bewahren, aber die Tendenz, die die Montagsdemos annahmen, hat mir nicht gefallen. Erst recht nicht, als nationalistische Töne reinkamen.
Ich dachte: Wie furchtbar schnell das geht!
Vier Wochen vorher war man sich noch einig und auf einmal fragte ich mich: Demonstriere ich noch mit den richtigen Leuten?
Ich ging aber trotzdem immer hin, weil ich dies den anderen nicht überlassen wollte.
Die letzte Montagsdemo war am Montag vor der letzten DDR-Volkskammer-Wahl im März 1990.
Bei all den Wahlen 1990 war ich Wahlhelferin und leitete jeweils ein Wahlbüro in Markkleeberg.
Ich war erst 23 Jahre alt und damit die Jüngste im 13-köpfigen Wahlvorstand. Dieser setzte sich aus Engagierten der Parteien, der neuen Organisationen und Kirchen bunt zusammen.
Ich kann mich noch genau erinnern: Bei der ersten Wahl am 18. März 1990 - ein wunderschöner warmer Frühlingstag.
Dies war unsere erste echte Wahl, die den Namen wirklich verdiente.
Nach all den Jahren ein sehr freudiges Ereignis!
Die Stimmung im Wahllokal war gut, die Menschen strömten nur so herein.
In unserem Wahllokal hatten wir eine Wahlbeteiligung von 90,2 Prozent.
Als wir dann nach 18 Uhr die Stimmen ausgezählt haben habe ich gedacht:
Ich bitte jetzt darum, die parteipolitisch gefärbten Gedanken nicht falsch zu verstehen, aber so ging es mir damals:
Jetzt hast du ein emanzipiertes Volk, die wissen, was sie wählen.
Und dann kam die Frage: Warum wählen so viele Kohl?
Warum wählen so viele CDU - Allianz für Deutschland?
Viele im Wahlvorstand, waren GRÜN-nah oder SPD-nah.
Wir haben uns angeschaut und gedacht: Das kann nicht wahr sein!
Unsere Euphorie war dahin. Da war ich schon ziemlich geplättet.
Und ich dachte: Jetzt gehörst du wieder zur Minderheit.
Aber das bist du ja gewohnt, also mach was draus!
Im Frühjahr 1990 fand ich dann auch zum grünen Ortsverein Markkleeberg und dieses Jahr verbrachten wir ja auch im Dauerwahlkampf.
Die nächsten Jahre befasste ich mich vor allem mit grüner Kommunalpolitik.
Die ersten Jahre waren unglaublich spannend, weil auch auf kommunaler Ebene in der Stadtverwaltung Markkleeberg ein drastischer Wechsel stattfand.
Auf einmal sollte man über Dinge entscheiden und urteilen, von denen man eigentlich keine Ahnung hatte.
Alle neuen Kräfte haben in Anfang der 90er Jahre auch in der Politik viel Neues lernen müssen.
Es war ein Sprung ins kalte Wasser, man hatte keine Vorbereitungszeit, alles lief „learning-by-doing“.
Von 1994-1999 war ich dann selber als grüne Stadträtin aktiv.
Diese ersten politischen Jahre waren sehr wichtig und prägend für mich.
So nach und nach mischte ich mich auch auf anderen Ebenen bei Bündnis 90/Die Grünen ein und nun bin ich schon seit 2005 Bundestagsabgeordnete.
Heute, wenn ich in meiner eigenen Fraktion ab und zu bei bestimmten Themen in der Minderheit bin - als Ostdeutsche, als eine mit eigenem Kopf - dann sage ich mir, es ist gut, dass solche Leute wie du im Bundestag sind, die Erfahrungen von 1989 und davor helfen mir dabei.
Und hätte man mir vor 25 oder 20 Jahren voraus gesagt, dass ich in der Zukunft mal als Bundestagsabgeordnete tätig sein werde, nie hätte ich das geglaubt. Fraktionsübergreifend ist es noch immer so, dass ostdeutsche Bundestagsabgeordnete eher politische Quereinsteiger aus anderen Berufen sind als die westdeutschen Kolleginnen und Kollegen. Und das belebt schon mal den Bundestag.
Wenn man nun in den letzten Wochen häufiger an 1989 gedacht hat und weswegen wir damals auf die Straße gegangen sind, war es auch die Forderung nach freien Wahlen.
Meine erste Wahl war die am 7.5.1989, wo ich ganz stolz mit "Wahlbesteck" in die Wahlkabine ging, alle "Kandidaten der Nationalen Front" durchstrich, um so mit "nein" zu stimmen.
Wie glücklich waren wir, als wir im März 1990 erstmals richtige freie Wahlen hatten. Damals betrug die Wahlbeteiligung über 90%.
Seitdem ist sie immer weiter gesunken. Das finde ich sehr schade.
Wir haben damals was für unsere Forderungen riskiert und heute schätzt dieses wichtige Recht nicht mal die Hälfte der wahlberechtigten Bevölkerung. Zur Landtagswahl im August dieses Jahres gingen in Sachsen nicht mal 50% wählen.
Das stimmt mich sehr traurig.
Die Demokratie haben wir uns vor 25 Jahren erstritten, nicht alles ist optimal geworden, aber wo ist das schon so.
Demokratie ist kein Automatismus und kein statischer Zustand.
Demokratie will täglich verteidigt werden.
Gerade wenn wir uns in dieser Zeit umschauen, wie unfriedlich es in vielen Regionen der Erde zugeht und wo überall Menschen für Veränderung und mehr Freiheit auf die Straße gehen, können wir uns glücklich schätzen, dass es vor 25 Jahren bei uns gewaltfrei zugegangen ist.
Ich wünsche mir, dass wir uns dessen bewusst sind und sich mehr Menschen in unserer Gesellschaft engagieren.
Nicht jeder hat immer Zeit, aber wenn es geht, gibt es heutzutage viele Möglichkeiten, auch im direkten Umfeld.
Weniger Anspruchsdenken und Gedankenlosigkeit, dafür mehr Hilfsbereitschaft und Mitmenschlichkeit wünsche ich mir.
Und dabei können die Kirchen auch heutzutage eine wichtige unterstützende Rolle spielen.