An den 26. April selbst kann ich mich nicht mehr so genau erinnern, aber an die Tage danach.
Ich besuchte gerade in Markkleeberg (bei Leipzig) die 12. Klasse. Wir bereiteten uns auf das Abitur vor und freuten uns auf unsere Abschlussklassenfahrt Mitte Mai nach Kiew.
Der Schultag am 26.4. verlief ohne besondere Vorkommnisse. Zuhause erfuhren wir von den Ereignissen in Tschernobyl. In den DDR-Medien war davon nichts zu hören, zu sehen und zu lesen, nur im "West"-Fernsehen und im "West"-Radio. Am Abend überlegte ich mit meiner Familie, was das alles zu bedeuten hat und was aus der Klassenfahrt wird. Ich dachte, man wird sie absagen.
Am nächsten Tag war ich schlauer…
Montag früh in der Klasse sprachen wir natürlich darüber. Die Mehrheit war der Meinung, dass wir nicht nach Kiew fahren wollen. Das teilten wir unserem Klassenlehrer mit. Der diskutierte mit uns und meinte, dass das auf keinen Fall ginge. Danach bearbeitete uns noch die Staatsbürgerkundelehrerin – ohne Erfolg. Schließlich wurde unsere gesamte Klasse ins Direktorenzimmer "vorgeladen". Dort legte uns der Direktor noch mal dar, dass wir doch den "Westmedien" nicht glauben dürfen, dass die Sowjetunion uns als Bruderland doch sagen würde, wenn was an der Sache dran wäre und uns nicht gefährden würde.
Am Ende des Schultages war es dann so, dass sich die Meinung der Klasse, bis auf drei Leute, geändert hatte und sie doch Mitte Mai zur Klassenfahrt nach Kiew wollten. Die drei waren: zwei Jungs, deren Väter Physiker waren, und ich.
Völlig fertig und desillusioniert ging ich nach Hause und beriet mich mit meinen Eltern. Sie bestärkten mich in meiner Meinung.
In der Klasse blieb es dann dabei. Alle anderen fuhren nach Kiew und wir drei blieben da.
Die beiden Jungs hatten in der betreffenden Woche einen Stand auf der gerade in Leipzig stattfindenden "Messe der Meister von Morgen" (so was wie "Jugend forscht") und mussten deshalb nicht zur Schule gehen.
Als einzige blieb ich also übrig. Ich hatte die Ehre, in dieser Woche in der Parallelklasse zum Unterricht zu gehen. Das wurde auch akribisch kontrolliert, dass ich ja nicht die Schule schwänze. Eine Anwesenheitsliste wurde über mich geführt und ich bekam von einigen parteitreuen LehrerInnen, z.B. dem Parteisekretär der Schule und Physiklehrer, sehr deutlich zu spüren, was sie von meiner Entscheidung hielten. Härtere Maßnahmen konnten sie nicht ergreifen, also musste ich eine Woche "Spießrutenlaufen" ertragen.
Als die anderen von der Klassenfahrt zurückkamen, erzählten sie begeistert, was sie dort im Hotel alles für leckere und frische Sachen zu Essen bekommen hatten und dass kaum andere Gäste dort waren. Selbst im nach hinein gab es von denen kaum kritische Nachfragen oder Skepsis.
Ich bin jedenfalls froh gewesen, dass ich bei meiner Entscheidung geblieben und nicht mitgefahren bin. Auf der Beurteilung des Abschlusszeugnisses gab es auch keine verdächtigen Hinweise, nur allgemeine Bemerkungen zum unangepassten Verhalten.
Monika Lazar