It´s a WM-World - Woche drei

Pressebericht, jungle.world, 01.07.2018

Auf eine Anfrage der Grünen MdB Monika Lazar hin hat das Bundesinnenministerium inzwischen bestätigt, dass die Bundespolizei "nach Einzelfallprüfungen personenbezogene Daten von bisher 30 Personen, die in der sogenannten Datei Gewalttäter Sport erfasst sind, auf Grundlage von §32 Absatz 3 Nr.1 i.V.m. §2 des Gesetzes über die Bundespolizei an Russische Sicherheitsbehörden übermittelt." Die Daten von X und Y scheinen dazuzugehören. Monika Lazar spricht laut Netzpolitik von einer rechtswidrigen Datenweitergabe an ein autoritäres Regime und nennt sie einen "Skandal". Ich bin mir sicher, zu dieser Praxis werden in den nächsten Tagen und Wochen noch einige Fragen gestellt werden.

Tag 7: Uruguay – Saudi-Arabien 1:0

Halb verschenkter Tag. Wir fahren weiter nach Rostow am Don, dem „Tor zum Kaukasus“. Auf dem Weg zum Spiel fahren wir gerade einmal 30 Kilometer am Donbass vorbei. Eine WM direkt neben einem Kriegsgebiet. Auf einem Güterzug, den wir auf der Strecke überholen werden Panzer transportiert. Hat natürlich sicher nichts mit dem Krieg zu tun.

Bei der Einfahrt nach Rostow passieren wir das wunderschöne alte Stadion „Olimp-2“ des FK Rostow, in welchem der Verein bis Anfang diesen Jahres seine Heimspiele austrug. Die ganze Autobesatzung schreit: „Anhalten!“. Ich biege rechts auf einen Parkplatz ab. Auf dem linken Auge sehe ich das Einfahrtverbotsschild, auf dem rechten ein Polizeiauto. Unfähig die Implikationen beider Informationen zusammen genommen zu verarbeiten fahre ich weiter. Und werde natürlich raus gewunken. Im klaren Bewusstsein unseres Fehlers verlegen wir uns auf die Taktik, die wir am besten beherrschen: Dumm stellen. Auf deutsch/französisch/englisch radebrechen wir freundlichst mit dem Polizisten. Russisch?

Nein, beherrschen wir leider nicht. Nach 5 Minuten sieht er ein, dass es den Stress nicht wert ist, wegen eines 20 Euro Strafzettel einen Übersetzer einzuschalten, zumal er das Geld dann nicht in die eigene Tasche stecken kann. Ha!

Schnell ein paar Fotos vom Stadion, dann ab in die City. Rostow ist eine nette Stadt, mit schicker Kathedrale, netten Häuschen und einem feinen Billigmarkt. Rostow ist allerdings auch die erste Stadt, die wir besuchen, in der man merkt, dass doch nicht alles fertig geworden ist. Zum Beispiel die Straßenbahn. Hieran wird am 2. Spieltag noch fleißig gewerkelt.

Die Rostow-Arena ist malerisch am Don gelegen, reißt aber architektonisch niemanden vom Hocker.

Grau in grau. Sie ist eines der Beispiele, warum die WM bei vielen Russen stark umstritten ist. Die Baukosten gingen stetig in die Höhe, am Ende sollen es ca. 250 Millionen Euro gewesen sein. Zwar ist der FK Rostow außerhalb Moskaus einer der am besten supportesten Vereine, doch ist sehr fraglich, ob er auf Dauer die Arena wird füllen können, auch wenn die Kapazität nach der WM von 45.000 auf 37.000 verringert wird.

Das Spiel sehen wir nicht. Akkreditierung verpeilt. Dumm. I blame the Jungle World. Aufgrund des  Fluges hätten wir aber ohnehin nur eine Halbzeit sehen können, das Spiel ist zum Glück erbärmlich.

Kurz nach Mitternacht landen wir wieder in Moskau. Am Flughafen: Absolutes Chaos. 10.000 Fans, die von allen möglichen Spielen zurückkommen, der letzte Flughafenzug gerade weg und die Straße direkt vor dem Flughafen gesperrt. Alle versuchen verzweifelt, einen Uber oder Yandex zu bekommen: Nichts.

Die Taxifahrer scheinen sich abgesprochen zu haben, auf App-Anfragen nicht zu reagieren, so können sie unter den Gestrandeten Fantasiepreise aufrufen. Um 2 Uhr endlich zuhause, ab ins Bett.

Tag 8: Argentinien – Kroatien 0:3

Bürotag. Wir schreiben die ersten Zwischenberichte zu den einzelnen Spielorten für unsere KollegInnen. Pressearbeit. Keine besonderen Vorkommnisse. Abends sehen wir im Fernsehen den kommenden Weltmeister Kroatien.

Tag 9: Serbien – Schweiz 1:2

Bürotag 2. Mehr Presse, mehr Briefings. Di von den 3 Pride Lions stößt am Abend zu uns. Sie hat inzwischen Verstärkung von ihrem Kollegen Joe bekommen, der im Vorstand der Gay Gooners (Arsenal) sitzt, einem der größten LGBT Fanclubs in England. Ab morgen werden die beiden bei uns einziehen.

Wir gehen in unserer georgisches Lieblingsrestaurant, Шпинат (Spinat). Das Cafe versteckt sich im Inneren des Bildungsministeriums. Verwinkelte Gänge führen hinein, die Anwesenden sind alle FreundInnen des Hauses. Keine nicht in Moskau lebende Person wird es jemals finden. Ausser den LeserInnen der Jungle World.

Das Essen ist fantastisch, mehr als reichhaltig und billig. Es gibt Khachapuri, Pkhali, Khinkali, Chkmeruli und Unmengen an Schaschlik. Getränke darf man selbst mitbringen. Zu uns gesellen sich noch zwei Freunde aus Frankreich. Sie sind gerade aus China angekommen. Per Anhalter.

Das Restaurant hat extra zur WM einen riesigen Fernseher gekauft. Dummerweise scheint die Satellitenschüssel nicht zu funktionieren, daher läuft das Spiel auf einem schlechten Internetstream. Aus den Augenwinkeln feuere ich die Schweiz an, die ich in den roten Trikots vermute. Serbien trifft in der letzten Sekunde durch Shaqiri. Hä? Seit wann spielt der denn für Serbien? Achso, 45 Minuten die falschen angefeuert. Seine Jubelgeste wird in den nächsten Tagen für viel Aufregung auf dem Balkan sorgen. Viele Links zu dem Thema findet man beim Kollegen Dario.

Wir trinken noch so einige Tschatscha, bevor wir nach Hause fahren. Ich schlafe in der Metro ein. Es war die letzte.

Tag 10: Belgien – Tunesien 5:2

Di und Joe ziehen ein. Willkommen. Wir fahren zusammen in die Stadt. Joe ist gefühlt zwei Meter groß, dünn, hat knallrote Haare und trägt ein Shirt mit rosa Flamingos. Die Blicke der Passanten sind unbezahlbar.

Ich gehe zur Veranstaltung „Whose game is it anyway – How Woman are transforming Football Culture in 2018“. Es diskutieren Felicia Pennant vom Season Magazine,  Amy Drucquer von This Fan Girl und die Fotografin Yana Davydova, die bei GirlPower FC in Moskau Fußball spielt. Alles sehr spannend und an dieser Stelle eine gute Gelegenheit auf unsere Wanderausstellung Fan.Tastic Females hinzuweisen, die im September im Millerntor Stadion eröffnet werden wird.

Wieder Büro. Nachmittags bekomme ich einen Anruf von zwei Allesfahrern eines Bundesligisten. Ich nenne sie mal X und Y. Die beiden, sowie einige weitere Freunde, haben schon vor Ewigkeiten WM-Tickets bestellt, ihre Fan-ID beantragt und zugeschickt bekommen. Einige Tage vor Abflug bekamen die beiden eine Mitteilung, dass ihre Fan-ID gecancelt wurde und somit auch ihr freies Visum. Sie wissen es nicht genau, aber da sie seit Jahren zu Fußballspielen fahren, besteht die Möglichkeit, dass sie in der Datei „Gewalttäter Sport“ stehen. Es ist nicht sonderlich schwierig dort hineinzugeraten, darin stehen mehr als 10000 Personen. In die Liste aufgenommen werden dabei nicht nur verurteilte Straftäter und Personen, gegen die ein Ermittlungsverfahren läuft, sondern in vielen Fällen auch Personen, die im Rahmen eines Spieles in eine Personalienfeststellung gerieten.

Auf eine Anfrage der Grünen MdB Monika Lazar hin, hat das Bundesinnenministerium inzwischen bestätigt, dass die Bundespolizei „nach Einzelfallprüfungen personenbezogene Daten von bisher 30 Personen, die in der sogenannten Datei Gewalttäter Sport erfasst sind, auf Grundlage von §32 Absatz 3 Nr.1 i.V.m. §2 des Gesetzes über die Bundespolizei an Russische Sicherheitsbehörden übermittelt.“ Die Daten von X und Y scheinen dazuzugehören. Monika Lazar spricht laut Netzpolitik von einer rechtswidrigen Datenweitergabe an ein autoritäres Regime und nennt sie einen „Skandal“. Ich bin mir sicher, zu dieser Praxis werden in den nächsten Tagen und Wochen noch einige Fragen gestellt werden.

Da X, Y und ihre Freunde schon alles gebucht hatten, beschließen sie trotzdem zu fliegen. Und werden tatsächlich ins Land gelassen. Im Gegensatz zu einigen anderen, ähnlich gelagerten Fällen, von denen wir nach und nach hören. Sie fahren zum Stadion um sich das Spiel Belgien vs. Tunesien anzusehen. Dort blinkt es am Einlass rot, sie kommen nicht rein und X wird zu allem Überfluss noch seine Fan-ID weggenommen. Das ist sehr schlecht. Denn nun kann er nicht mehr nur kein weiteres Spiel sehen, sondern auch nicht mit seinen Freunden mit dem kostenlosen Zug weiter fahren. Außerdem steht er nun im Land, ohne Visum im Pass. De facto ist er also illegal hier. Meine russischen Kolleginnen und Kollegen setzen alle Hebel in Verfügung, um herauszufinden, wie X wieder das Land verlassen kann, ohne bei der Ausreise festgenommen zu werden.

X und Y sind sehr angenehme Zeitgenossen, wir nehmen sie bei uns auf. Zu uns gesellen sich noch Maryam und Sara, die beiden iranischen Aktivistinnen, die ich schon in St.Petersburg getroffen habe. Sie hatten beim zweiten Spiel des Iran ebenfalls Probleme. Ihre Protestbanner wurden ihnen in Kazan von der örtlichen Polizei am Stadioneingang abgenommen. Trotz Zulassung durch die FIFA. Wir kontaktieren die FIFA, die uns verspricht alles in die Wege zu leiten, um die Banner wieder zu bekommen und diese ihnen bis zum nächsten Spiel des Iran zukommen zu lassen.

Langsam wird es voll in der Wohnung, doch alle verstehen sich prächtig.


Autor:  Endi Endemann

[Quelle: jungle.world]