Kinderrechte müssen ins Grundgesetz – Im Gespräch mit Monika Lazar

Pressebericht, Freiheitsliebe, 15.09.2011

Immer mehr Kinder und Jugendliche wachsen in Verhältnissen auf, die ihnen keine wirkliche Perspektive bieten. Wir sprachen mit Monika Lazar, Bundestagsabgeordnete, Sprecherin für Strategien gegen Rechtsextremismus und Sprecherin für Frauenpolitik der Bundestagsfraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, über Kinderarmut, Neue Medien und Politikverdrossenheit unter Jugendlichen!

Die Freiheitsliebe: Die Kinderarmutszahlen in Deutschland steigen immer weiter. Programme wie Hartz IV verstärken die Armut zudem. Wie kann man diesen Kindern möglichst schnell helfen?
Monika Lazar: Wir Grüne wollen Kinderrechte im Grundgesetz verankern und die Kinderarmut wirksam bekämpfen. Nach den aktuellen Regelungen sind Kinder dem Staat unterschiedlich viel wert. Durch steuerliche Freibeträge erhalten besserverdienende Eltern größere Vorteile, Kinder im Fürsorge-Bezug haben aber nichts davon, dabei brauchen gerade sie staatliche Unterstützung. Wir schlagen deshalb eine eigenständige Kindergrundsicherung vor und setzen damit dem alten System der Familienförderung ein sozial gerechteres, transparentes Modell entgegen, bei dem das Kind im Mittelpunkt steht.
Ebenso wichtig sind uns umfassende präventive Strategien, um zu verhindern, dass Familien (und damit auch Kinder) überhaupt in Armut geraten. Hier stehen an erster Stelle gleichberechtigte Bildungschancen für alle und eine zukunftsfähige Wirtschaft, die gute Arbeitsplätze schafft.

Die Freiheitsliebe: Bildung ist das Grundlegenste und eines der wichtigsten Güter in unserer Gesellschaft. Von der Bildung hängt die Zukunft jedes einzelnen, sowie der Gesellschaft ab. Schon im Kindergarten herrschen große soziale Unterschiede. Forscher sind sich einig, dass eine frühkindliche Erziehung sehr effektiv ist. Wieso fördert Jugendpolitik Kindergärten nicht stärker?

Monika Lazar: Wir wollen Bildung und Förderung für alle Kinder von Anfang an. Deshalb sind wir immer für einen Rechtsanspruch auf eine qualitativ hochwertige, ganztägige Kinderbetreuung ab dem ersten Lebensjahr, welche nicht vom elterlichen Geldbeutel abhängt, eingetreten. Zur Verbesserung der Qualität sollen Erzieherinnen und Erzieher an Hochschulen ausgebildet werden. Gleichzeitig ist es uns wichtig, auch die Elternkompetenz zu stärken, da der Staat allein die Verantwortung für eine gesunde und umfassende kindliche Entwicklung nicht tragen kann. Wir wollen deshalb Kinderbetreuungseinrichtungen zu Eltern-Kind-Zentren ausbauen, um Eltern zu unterstützen und deren Erziehungsfähigkeit zu stärken.
Im Mai 2011 veranstaltete die grüne Bundestagsfraktion einen „grünen Kita-Gipfel“. Die Ergebnisse kann man auf der Fraktionsseite unter nachlesen.

Die Freiheitsliebe: Die Integrationspolitik in Deutschland ist gescheitert. Gerade in der frühkindlichen Erziehung hat die Erziehung noch großen Einfluss auf das Verhalten der Kinder. Ist der Kindergarten oder die Vorschule nicht die idealen Orte, um die Integration zu fördern?
Monika Lazar: Ich stimme der pauschalen Aussage, die Integrationspolitik in Deutschland sei gescheitert, nicht zu. Hier leben viele Millionen Menschen mit Migrationshintergrund; die überwiegende Mehrheit trägt zum wirtschaftlichen Erfolg und zur kulturellen Vielfalt unseres Landes bei. Erfolgreiche Integration ist eine Bereicherung für beide Seiten, es lohnt sich, die multikulturellen Kompetenzen zu bündeln. Kindergarten und Vorschule müssen dabei einbezogen werden. Höhere Investitionen in deren Qualität werden die Teilhabechancen von Kindern mit Migrationshintergrund um ein Vielfaches verbessern.
Allerdings geben leider viele Eltern mit Migrationshintergrund ihre Kinder gar nicht in solche Betreuungseinrichtungen. Diese Kinder erscheinen oft erst in der Schule, wo sich dann häufig Probleme mit der deutschen Sprache zeigen. Die Eltern müssen ermutigt werden, ihre Kinder frühzeitig an der fördernden Kinderbetreuung teilhaben zu lassen. Parallel dazu brauchen wir in den Einrichtungen frühkindlicher Bildung eine Qualitätsoffensive, zu der z.B. eine fachlich hochwertige Vermittlung von Sprache und interkultureller Kompetenz (auch für deutsche Kinder und deren Eltern) gehört. Gleiches gilt für Schulen und andere Bildungs- sowie Freizeiteinrichtungen.

Die Freiheitsliebe: In Hamburg gab es einen Kompromiss von den damals im Parlament vier vertretenen Parteien, dass man sich für ein längeres gemeinsames Lernen einsetzt. Das Volk sprach sich beim Volksentscheid gegen das Konzept aus. Woran liegt das? Länder wie Schweden oder Frankreich zeigen doch, dass ein längeres gemeinsames Lernen von Erfolg gekrönt ist.

Monika Lazar: Ich halte längeres gemeinsames Lernen für sinnvoll und hoffe, dass in Deutschland die Entwicklung erfolgreich in diese Richtung gehen wird.
Warum die Menschen in Hamburg mehrheitlich dagegen gestimmt haben, kann ich nicht beurteilen. Auf jeden Fall lag die Wahlbeteiligung mit 39 Prozent niedrig, so dass nur die Meinung eines Teils der Bevölkerung widergespiegelt wurde. Künftig muss es der Politik gelingen, mehr Menschen zur Mitgestaltung zu mobilisieren und ein noch stärkeres Interesse für bildungspolitische Themen zu wecken.

Die Freiheitsliebe: In größeren Städten lässt sich immer häufiger beobachten, dass sich sowohl Reichen- als auch Armenviertel bilden. Stehen wir kurz vor dem Zeitalter der Zweiklassengesellschaft?

Monika Lazar: Die Unterschiede zwischen Arm und Reich sind in Deutschland bedenklich groß. Dies führt in vielen Bereichen zu Ungerechtigkeiten, z.B. am Arbeitsmarkt, bei der Gesundheit, bei der Integration und vor allem im Bildungsbereich. Mit einem grünen Maßnahmenmix wollen wir gegensteuern. Dazu bessere Bildung und Betreuung für alle von früher Kindheit an, Mindestlöhne zum Schutz vor beruflicher Ausbeutung, menschenwürdige Hartz-IV-Regelsätze und eine Kindergrundsicherung. Wichtig ist auch, zukunftsfähige Jobs zu schaffen. Vorschläge für 1 Millionen neue Arbeitsplätze haben wir im „Green New Deal“ unterbreitet. Dabei konzentrieren wir uns vor allem auf Erneuerbare Energien, Bildung und Betreuung, Gesundheit und Pflege, einen sozialen Arbeitsmarkt und den Abbau von Schwarzarbeit.

Die Freiheitsliebe: In der letzten Zeit ist oft die Rede von „Politikverdrossenheit“. Gerade Jugendliche zeigen oft wenig Interesse an der Politik, was auch die Wahlbeteiligung junger Erwachsener wiedergibt. Wie kann man das Interesse der Jugend an Politik wieder wecken?

Monika Lazar: Ich glaube nicht, dass Jugendliche politikverdrossen sind. Vielmehr würde ich von einer „Parteienverdrossenheit“ sprechen. Viele junge Menschen, die ich kenne, möchten die Gesellschaft mitgestalten, sind aber von der konkreten Politik der demokratischen Parteien enttäuscht. Deshalb gehen sie auch nicht wählen, engagieren sich aber ehrenamtlich in Projekten oder in jugendkulturellen Bereichen. Meiner Ansicht nach ist es gerade für junge Menschen sehr wichtig, glaubwürdige demokratische Vorbilder zu finden. Die Versprechen, die vor der Wahl gemacht werden, müssen nach der Wahl Bestand haben und umgesetzt werden.
Anderenfalls wenden sich manche junge Menschen von der Demokratie ab und folgen rechtsextremen Parteien und Gruppen. Die jüngsten Wahlerfolge der NPD in Mecklenburg-Vorpommern sind ein trauriges Beispiel, welches die demokratische Politik aufrütteln muss.

Die Freiheitsliebe: Kürzlich berichtete ein Erzieher mir folgendes: Im Kindergarten gibt es Kinder, die nicht einmal sicher laufen können, aber problemlos einen ipod-touch bedienen können. Unser Leben wird immer komplexer und schnelllebiger. Wie stehen sie dieser Entwicklung gegenüber?

Monika Lazar: Neue Medien sind mittlerweile fester Bestandteil unseres gesellschaftlichen Lebens und vielfach sehr nützlich. Wir können diesbezüglich die Zeit nicht zurückdrehen, sondern müssen Konzepte zum sinnvollen Umgang damit entwickeln. Bereits kleine Kinder kommen in Kontakt mit den Möglichkeiten der neuen Technik. Verbote halte ich nicht für den Königsweg. Wichtig ist vielmehr, dass eine kindergerechte Anwendung der Technik erfolgt und andere Spielformen sowie eine ausreichende körperliche Bewegung nicht auf der Strecke bleiben. Hier haben Eltern und andere Erziehungspersonen eine hohe Verantwortung. Sie müssen dafür sorgen, dass der sozialen und emotionalen Entwicklung die höchste Aufmerksamkeit gewidmet wird.
Die Freiheitsliebe: Wir danken ihnen für dieses Gespräch.

Quelle: www.diefreiheitsliebe.de